Kugelgefühl


Pétanquekugeln - mehr als nur ein Hauch und dennoch relativ leicht
Pétanquekugeln - mehr als nur ein Hauch und dennoch relativ leicht

Eine Pétanquekugel wiegt rund 700g. Der durchschnittliche Pétanquespieler dagegen, bringt deutlich mehr als das Hundertfache auf die Waage – ein Wert, der nach gewissen Feiertagen auf rätselhafte Weise anzuwachsen pflegt. Im Spiel geht es darum, diese Winzigkeit über eine erhebliche Strecke hinweg mit erstaunlicher Präzision zu befördern, was, vergleichen wir es einmal mit dem Billard, auf recht brachiale Weise geschieht. Wird beim Spiel mit dem "Queue" nur ein sanfter Stoß eingesetzt, rotiert beim Boule der Arm in wildem Schwung um das Schultergelenk; der ganze Körper befindet sich mehr oder weniger in Bewegung, muss also Kräfte und Spannungen ausgleichen. Und doch ist die Präzision, zumal bei erheblichen Distanzen, absolut vergleichbar. Erklärbar ist das nur, mit einer besonders sensiblen Wahrnehmung; mit einem jederzeit vorhandenen Gefühl für die Kugel selbst. Wie soll man es beschreiben?

"Trébuchet" - wenig sensibel und doch relativ präzise
"Trébuchet" - wenig sensibel und doch relativ präzise

 

Wir haben uns gelegentlich des Bildes einer Wurfmaschine [1] bedient, um die beim Wurf stattfindenden Prozesse besser fassen zu können – auch hier kann uns diese Analogie nützlich sein: Besagte hölzerne Maschine schnellt, sobald der Mechanismus ausgelöst ist, den Wurfarm mit unglaublicher Kraft in Zielrichtung, ungeachtet des zu schleudernden Steines. Alles, womit der Schleuderapparat bestückt ist, wird einfach mitgerissen.

 

 

Ähnlich widerfährt es dem unkontrolliert werfenden Pétanquespieler. Er führt seine Bewegungen aus, ohne dem eigentlichen Objekt seines Handelns – der Kugel – die rechte Achtsamkeit zu widmen.

Das kann leicht geschehen, wenn besagter Spieler seine Wurfbewegung noch nicht gefunden hat und sich zu sehr auf einzelne Parameter konzentriert, die den Wurf beeinflussen (Handhaltung, Ausholbewegung etc.). Ebenso kann eine zu starke Zielfixierung die Ursache sein, wodurch dann das Ziel zu sehr in den Fokus gerät, während das zu werfende Objekt vollkommen daraus verschwindet (Bewegungsorientierung...). Ferner kann auch ein schlichter Konzentrationsmangel vorliegen, der den Spieler davon abhält, sich immer wieder vollends in die Bewegung hineinzufühlen. Schließlich kommt noch die gefürchtete Wettkampfangst in Betracht, deren "Nebengeräusche" dann das Eigentliche übertäuben. Alles dies lässt den Arm die Kugel fühllos und unpräzise einfach mitreißen.

 

So also kommt es zu einer unzureichenden Wahrnehmung, und wir verstehen nun besser, worum es uns gehen muss: Die Kugel jederzeit zu spüren, uns ihrer bewusst zu sein, solange wir sie in Händen halten; ihre Bewegung in jedem Moment zu erfassen, in der sie sich ereignet – wohlgemerkt: Die Bewegung der Kugel, nicht die des Armes oder der Hand! [2]

 

Der Spieler registriert die Kugel als sanften Druck in der Handfläche, wenn die Gravitation an der runden Masse zieht. Dieser verstärkt sich, wenn der stählerne Ball der Schleuderbewegung seine Trägheit entgegensetzt. Man kann sich dieses Gefühls bewusstwerden – sich sensibilisieren –, indem die Kugel einfach spielerisch in der Handmulde in jede erdenkliche Richtung bewegt wird, ohne sie jedoch loszulassen. Schnell wird aus diesen Bewegungen eine Art Balancieren bei dem der Handrücken nach oben weist, ein Spiel mit Erdanziehung, Massenträgheit und Zentrifugalkraft, wodurch das Gefühl für die zu bewegende Masse wächst.

 

So lernen wir, das Gewicht der Kugel – und damit ihre Präsenz in der Hand – in jedem Augenblick zu erspüren. Durch dieses Erspüren kann das Gehirn die Bahn der Kugel besser fortschreiben, bis diese die Hand verlässt und bis zuletzt noch feinste Justagen vornehmen – ein Prozess, der freilich vollkommen unbewusst verläuft . So wird die Kugel genau in jenem winzigen Moment freigegeben, der einzig ein Treffen des Zieles zulässt.

 

Wir müssen nicht verstehen, wie das Gehirn diese phänomenale Leistung vollbringt [3], dass aber die Achtsamkeit für die Kugel dabei hilfreich ist, liegt auf der Hand. Selbstverständlich gilt es zunächst, die eigene Wurfbewegung zu optimieren, einen reinen und effizienten Stil zu entwickeln. Die Bewegungskoordination darf aber nicht zum Selbstzweck werden. Irgendwann muss der Spieler die Bewegungen wie von selbst geschehen lassen und sich ganz der Kugel zuwenden, bis er sie so erspürt, als sei sie ein Teil seiner selbst.

 

Thorsten


Anmerkung: Die Crux liegt darin begründet, dass sowohl bei reiner Anwendung der Wurftechnik und gleichzeitigem Mangel an Kugelgefühl, als auch bei mangelhafter Technik und überragendem Kugelgefühl Treffer möglich sind. Eine gut entwickelte Wurftechnik wird bei geringer Streuung eine leidliche Anzahl an Treffern generieren. Ebenso wird der Spieler bei gutem Gefühl auch dann noch treffen, wenn er weit von seiner eigentlichen Bewegung abweicht. Der Spieler erschrickt dann über sich selbst, wenn er beispielsweise nach dem Wurf fast aus dem Kreis fällt und dennoch einen Treffer landen konnte. Hier hat dann das Gefühl eine extrem unzureichend gewordene Wurfbewegung noch ausgleichen können. Diese Wechselwirkung ist meiner Meinung nach für die bei vielen Spielern zu beobachtenden "Konjunkturen" [4] verantwortlich, die selten recht erklärt werden können und dann mit einem lapidaren "Es kommt und geht" abgetan werden. Es wird stets einer der für den Wurf verantwortlichen Faktoren – Technik oder Gefühl – überstrapaziert, während der jeweils andere vernachlässigt wird. Sich dieses Zusammenhanges bewusst zu werden und es nicht erst soweit kommen zu lassen, führt dann zu einer Verstetigung des Leistungsniveaus.


[1] siehe beispielsweise: "Fehlschüsse lesen" oder "Das Handgelenk".

Tatsächlich bestand bei Belagerungen, bei denen Steinschleudermaschinen eingesetzt wurden, eine wesentliche Schwierigkeit darin, Steine von gleicher Größe und Gewicht zu beschaffen, da hiervon die Präzison der Schüsse abhing.  

Mit der erstaunlich komplexen Physik eines Trébuchets beschäftigt sich folgende Seite:

https://www.real-world-physics-problems.com/trebuchet-physics.html 

[2] Diese Perspektive ist auch als "externer Aufmerksamkeitsfokus" bekannt. Der Artikel "Bewegungen bewirken, Bewegungen erlernen" geht näher darauf ein.

[3] Hierzu ist in folgendem Artikel einiges ausgeführt: "Der Wurf aus wissenschaftlicher Sicht"

[4] Damit meine ich die Zunahme und das Absinken der erbrachten Leistungen. Vielen Spielern bereitet es Probleme, den angestrebten Leistungsstand für längere Zeit zu konservieren. Gute und schlechte Phasen wechseln sich in zyklischer Folge ab. Nachdem die ideale Bewegung gefunden ist, degeneriert sie im laufenden Spielbetrieb wieder, und muss dann vom Spieler erneut gefunden werden. Einen weiteren Erklärungsansatz für dieses Phänomen bietet: "Zyklische Leistungsschwankungen


Ergänzung: Etwa ein Jahr, nachdem ich diesen Artikel verfasst hatte, in dem ich überwiegend meine eigenen Erfahrungen ausbreite, entdeckte ich eine Dissertation, die sich mit der Frage beschäftigt, ob ein kinästhetisches Training es Anfängern erleichtern kann, den Golfschwung zu erlernen. Aus dieser Arbeit lassen sich ähnliche Schlussfolgerungen wie in diesem Aufsatz ziehen. Ich habe mich entschlossen, diese nicht als Ergänzung an den bestehenden Artikel anzuhängen, sondern ihnen vielmehr einen eigenen Artikel zu widmen: Körpergefühl