Vom Steinwurf zum Pétanque


Fasziniert vom gelingenden 'Tir au fer' (Eisenschuss), von diesem Moment der spielerischen Vollendung einer Bewegung und der schlagartigen Auflösung einer misslichen Konstellation führte mich die Suche zu dem frühen Anfang des Spiels (Zielwurf) sowie dessen anthropologischen Ursprung.

Wer hat den Anfang gemacht und warum?

 

Unser Pétanque hat seine Geburtsstunde – wie bekannt – vor etwa 100 Jahren in LaCiotat (Südfrankreich, 1907). Es entstand aus dem bis dahin sehr populären 'Jeu provençale' und das wiederum hatte Vorläufer im alten Frankreich (ab 13 Jahrhundert), die selbst wieder auf noch ältere Spiele bei Römern (globorum) und schließlich schon in der griechischen Zeit (sphaera) zurückzuführen sind. Mit zunehmend schwieriger Quellenlage können noch frühere Ursprünge des Zielwurfs mit Kugeln im Ägyptischen (ca. 5‘800 v. Chr.) bzw. Mesopotamischen Reich gesehen werden. Auch bei Ausgrabungen der steinzeitlichen Siedlung Çatalhöyük (ca. 7500 und 5700 v. Chr.; nahe Konya in Anatolien) wurden auffällig viele Spheroide in der Größe unserer Boulekugeln gefunden, die zum Teil Laufspuren aufweisen. Schließlich sind schon kugelige Wurfgeschosse in frühesten Zeiten nachgewiesen worden. [Q1]

Doch seit wann wird überhaupt geworfen?

Ohne historische Aufzeichnungen können weiter zurückliegende Stufen des Werfens nur schwer erschlossen werden. Der gemeinsame Ursprung unser Art (homo) mit den Affen kann hier noch etwas weiter helfen. Auch andere Tiere werfen im Verteidigungsfall, aber den stehend ausgeführten Wurf aus einer Hand beherrschen außer uns nur die Affen – allerdings mit geringerer Präzision. [Q2]

Aufwändige Beobachtungen von Affenhorden (japanische Makaken) zeigen, dass manche Trupps häufiger zu Steinen greifen und werfen; oft motiviert zur Abwehr äußerer Störungen aber auch einfach, um Aufmerksamkeit in ihrer Gruppe zu erlangen. Sie stehen dabei meist auf drei, manchmal auf zwei Beinen, werfen – je nach Veranlagung – mit der rechten oder linken Hand. Sie werfen seitlich, nach hinten aber auch weit nach vorne und aufwärts (Hochportée) bis zu 10 m hoch und bis zu 15 m weit. Einige erreichen einen 1-Meter-Zielkreis in ca. 7 m Distanz bei 16 von 17 Würfen. [Q3]

 

Aus Afrika wird berichtet, dass Schimpansen gerne Steine (in der Größe unserer Boulekugeln) in hohle Bäume werfen, diese nach einiger Zeit wieder heraus kramen und dann das Spiel fortsetzen. [Q4]

Historisches Lernen bei Affen und Menschen vergleichbar?

Die Verhaltensstudien bei den japanischen Makaken ergaben, dass einige Affenhorden wesentlich häufiger mit Steinen werfen. Innerhalb ihrer Gruppe werfen sowohl männliche als auch weibliche Tiere und über die Monate der Beobachtung nahm auch der Anteil werfender Spieler sowie die Häufigkeit des Werfens zu. Jungtiere folgen ganz natürlich dem Beispiel ihrer Vorbilder.

 

So können wir auch begründet vermuten, dass Proto-Menschen (archaische Vorfahren des homo) ähnlich zum Werfen gekommen sind. Steine gab es immer und in der Steinzeit lernten die Proto-Menschen sogar, sie zu Werkzeugen zu machen.

Mit Stein und Speer auf Jagd

Ganz in unserer Nähe, im Schöninger Tagebau wurden die ältesten Jagdwaffen der Menschheit gefunden. Die ‚Schöninger Speere‘ sind ca. 300‘000 Jahre alt und dienten der vorzeitlichen Jagd, insbesondere in der Nähe von Wasserstellen, [Q5].

 

Etwas weniger Beachtung finden aber die an prähistorischen Wasserstellen gefundenen, faustgroßen Steine. Da sie nicht immer aus der Umgebung stammen, müssen frühe Menschen sie mitgebracht haben, gewiss auch zur Jagd. Durch jüngste Experimente in Südengland ließ sich nachweisen, dass Kleintiere in der freien Wildbahn sehr wohl mit faustgroßen Steinen erlegt werden können. [Q6]

Wie fing alles an?

Versetzen wir uns in die Lage sehr früher Proto-Menschen im Übergang vom affenähnlichen Leben. Sie konnten schon gebeugt, auch zweibeinig gehen und hatten dadurch Schulter und Arme frei. Noch lange nicht konnten sie Werkzeuge produzieren, wohl aber Gegenstände ergreifen und – wie die Makaken – umher werfen. Vielleicht eher durch Zufall, vielleicht auch motiviert durch äußere Aufregung versuchten sie den ersten Wurf auf ein Ziel.

 

Gut denkbar ist, dass talentierte Werfer mit mehr oder weniger gezielten Würfen Aasfresser vertrieben und dadurch an frische Kadaver kamen. Dieser Erfolg verstärkt die Wurfpraxis. Mehr proteinreiche Nahrung verschafft gleichzeitig Freiheiten im täglichen Leben, verglichen mit rein vegetarischer Ernährung. Nachahmung in der Gruppe, Achtungsvorteile gegenüber Nicht-Steinewerfern, Verstärkung dieser Talente und Dominanz durch Üben erhöhte auch die Paarungschancen und wird sich somit nach Calvin als Verhalten früh manifestiert haben. [Q7]

Und was noch geschah / geschieht!

Auch die japanischen Makaken begleiten ihre Würfe meist durch Ausrufe. Sie feixen und jubeln vor und nach dem Wurf. Diese Nähe von Stimme und Wurf ist kein Zufall. Unser Gehirn – und auch das der Proto-Menschen – erfüllt spezielle Aufgaben in unterschiedlichen Hirnarealen. Die Regionen für Stimme / Sprache und räumliches Wahrnehmen / Werfen sind direkt benachbart. [Q8]

 

Maßgeblich hat Calvin daraufhin die ‚Throwing Hypothesis‘ aufgestellt, nach der der Mensch erst durch das Werfen zum Menschen wurde (‚homo ejectus‘, Latein: der werfende Mensch). Es ist stammesgeschichtlich belegt, dass sich etwa zeitgleich Sprache und Jagd entwickelten. Die verbesserte Nahrungsqualität verursachte bei den Proto-Menschen einen immensen Wachstumssprung des Gehirns; Verständigen und Jagen haben sich bedingt. Die motorischen Qualitäten waren zusammen mit der verbesserten räumlichen Wahrnehmung selbst verstärkend und entwickelten mit dem ‚auf etwas Zeigen‘ (später: das Benennen dieser Dinge) gleichzeitig das räumliche Erkennen (damit: Zielen).

Der richtige Moment

Calvin hat auch experimentell nachgewiesen, dass der Wurf sich aus mehreren Komponenten zusammensetzt. Der aufrechte Gang bzw. Stand macht das Schultergelenk frei; der Arm kann schwingen. Die Hand hält den Stein in einer ‚Kralle‘ und muss nur im richtigen Moment loslassen, während der stabil pendelnde Arm weit nach vorne schwingt.

Genau dieses Loslassen, das Öffnen der Kralle, entscheidet über Wurfhöhe und -weite, der schwingende Arm über die Richtung. Es gibt nach Calvins Erkenntnis nur einen richtigen, ganz kurzen Moment (im Millisekundenbereich), in dem das Gehirn das Signal zum Öffnen der Hand senden muss, damit ein Ziel getroffen wird.

 

Mit dem größeren Gehirn und entsprechend größerer Zahl an Neuronen (Signalmoleküle an Synapsen) entwickelt der Mensch die Möglichkeit zum präzisen Wurf. Durch gleichzeitiges ‚Feuern vieler Neuronen‘ wird der Abwurfmoment besser gesteuert. Allein die im Verlauf der menschlichen Entwicklung zunehmende Gehirnmasse unterstützt dieses Lernen. Zusätzlich unterstützen benachbarte Hirnareale ggf. punktuell diese Aktion (zu Lasten des synchronen Sprechens). Mit immer besserem Wurfverhalten erlangten Menschen leichter Beute. Bessere Jäger bzw. Schießer gewannen unter Anerkennung der Gruppe bessere Fortpflanzungsmöglichkeiten und setzten sich durch … bis in heutige Zeiten! [Q9]

Da haben wir‘s!

Unser Pétanque-Spiel hat tatsächlich sehr alte Wurzeln und wie in frühen Zeiten hilft die Koordination von Geist und Körper auf dem Weg zum guten Schießer. Das Vervollkommnen dieser jagdlichen Kulturtechnik entspringt anthropologisch gelernten Mustern. Noch immer bewirkt der Treffer auf Eisen oder gar der Sauschuss erhebliche Euphorie – in uns, in unser Horde und darüber hinaus! [Q10]

 

Andreas (November 2016)

 

Q Quellen und ggf. WebLinks

[1] Leeds Beckett University.
"Stone age hunters really did hunt well by throwing stones."
ScienceDaily. ScienceDaily, 10 August 2016.
https://www.sciencedaily.com/releases/2016/08/160810090205.htm

[2] Rossella LORENZI (Discovery News)
„Ancient Egyptians invented bowling„
http://www.abc.net.au/science/articles/2007/07/27/1989990.htm

[3] Max-Planck-Gesellschaft – Behavioural Biology (Research News)
Why do chimpanzees throw stones at trees?“
MPI-EVA PanAf/Chimbo Foundation, February 29, 2016
https://www.mpg.de/10328790/chimpanzee-stone-tree
https://www.chimpandsee.org/#/classify

[4] Jean-Baptiste LECA, Charmalie A.D. NAHALLAGE, Noelle GUNST, Michael A. HUFFMAN
„Stone-throwing by Japanese macaques: form and functional aspects of a group-specific behavioral tradition“
Journal of Human Evolution 55 (2008) 989-998

http://jbleca.webs.com/Leca_et_al2008Throw.pdf

[5] Alfred W. CROSBY (University of Texas at Austin)
Cambridge University Press--
„Throwing Fire – Projectile Technology Through History“
https://books.google.de/books?id=vyFxldb2GJQC&pg=PA23&lpg=PA23&dq=%27Throwing+Hypothesis%27+calvin&source=bl&ots=Wf2aTkl3YN&sig=ivIC7H03vvR4XRBk24lSM9qCot0&hl=de&f=false#v=onepage&q&f=false

[6] Indiana University. (Andrew D. WILSON & al.)
"Tool or weapon? Research throws light on stone artifacts' use as ancient projectiles."
ScienceDaily. ScienceDaily, 19 August 2016.
www.sciencedaily.com/releases/2016/08/160819084826.htm
http://irational.org/heath/stone_age_hunting/

[7] William H. CALVIN
"A Stone's Throw and its Launch Window: Timing Precision and its Implications for Language and Hominid Brains,"
Journal of Theoretical Biology 104, 121-135 (1983).
http://WilliamCalvin.com/1980s/1983JTheoretBiol.htm

[8] Indiana University. (Andrew D. WILSON & al.)
"Humans' critical ability to throw long distances aided by an illusion, study finds."
ScienceDaily. ScienceDaily, 24 January 2011.
www.sciencedaily.com/releases/2011/01/110124073910.htm
http://www.wissenschaft.de/el/leben-umwelt/-/journal_content/56/12054/11293131/Das-Lexikon-unseres-Gehirns/

[9] ZHU, Qin; BINGHAM, Geoffrey P.
“Is hefting to perceive the affordance for throwing a smart perceptual mechanism?“
Journal of Experimental Psychology: Human Perception and Performance, Vol 34(4), Aug 2008, 929-943
http://psycnet.apa.org/journals/xhp/34/4/929/

 

[10] Justin N WOOD, David D GLYNN, and Marc D HAUSER
„The uniquely human capacity to throw evolved from a non-throwing primate: an evolutionary dissociation between action and perception“.
Biol Lett. 2007 Aug 22; 3(4): 360–365.

https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2390659/