Diskussionen und Aufträge

- Varianten der Entscheidungsfindung -


"Bei militärischen Angelegenheiten gehe ich ausschließlich mit mir selbst zu Rate;

in diplomatischen Fragen berate ich mit jedermann."

                                                                   Napoléon Bonaparte

 


Falsch verbunden?
Falsch verbunden?

Wenn eine Mannschaft sich einigen muss, was als Nächstes zu tun sei, kommt gewöhnlich ein Verfahren zur Anwendung, das kurz beschrieben werden soll:

 

Die Mannschaft begibt sich geschlossen in die Nähe des Cochonnets, um die genaue Situation festzustellen. Danach wird der Weg vom Cochonnet zum Kreis zurückgelegt, um von dort in Zielrichtung zu peilen. Nun werden Möglichkeiten erörtert, eine Auswahl getroffen und der Spieler bestimmt, der handeln soll. Dieser kann sodann weitere Informationen sammeln, die zur Ausführung des Wurfes benötigt werden. Dabei handelt es sich beispielsweise um die genaue Festlegung des Données und das detaillierte Erkennen der Bodenverhältnisse.

 

 

Diese Verfahrensweise, die bei hochklassigen Turnieren zu beobachten ist, bietet mehrere Vorteile:

 

- Die Untersuchung der tatsächlichen Situation gewährleistet es, dass die Planung nicht von falschen Voraussetzungen ausgeht. Dieses kann leicht geschehen, wenn Spieler in der Nähe des Kreises verweilen. Durch optische Verzerrungen entstehen dann vollkommen irrige Annahmen über die tatsächliche Lage.

- Indem die Lagebeurteilung gemeinsam erfolgt, ist zudem gewährleistet, dass bei der späteren Beratung alle Teammitglieder von identischen Informationen ausgehen. Der Weg zurück und der Blick vom Kreis gewährleistet dann, dass die Mannschaft auch die Wegverhältnisse einheitlich und korrekt wahrnimmt. Wenn nun Alternativen diskutiert und Entschlüsse gefasst werden, geschieht das auf einer fundierten Grundlage.

- Die räumliche Nähe der Mannschaftsmitglieder ermöglicht dabei einen effizienten Austausch der Meinungen, der dem Gegner verborgen bleibt. Durch gemeinschaftliches Absegnen der Aktionen darf sich der ausführende Spieler mental gestärkt fühlen, denn er handelt nun im Sinne der ganzen Mannschaft, was nicht selten noch zusätzlich durch aufmunternde "Allezrufe" bekundet wird.

 

Dieses Verfahren ist derart verbreitet, gehört zum Pétanque wie Kugel und Lappen, wird zudem von Weltmeistern praktiziert, dass es unangebracht erscheint, es anzuzweifeln. Dennoch soll das hier geschehen, denn es beinhaltet auch gravierende Nachteile.

 

1. Handlungsregulatorische Nachteile: Viele Spieler leben davon, einen bestimmten Rhythmus einzuhalten. Ihr Spiel muss im "Fluss" bleiben, um sich voll entfalten zu können. Wenn nun beide Mannschaften das oben skizzierte Verfahren als Ritual betreiben und gewohnheitsmäßig die erlaubte Zeit ausnutzen, vergeht ein geraumer Zeitraum, bis ein Spieler wieder am Zuge ist. Dieses ist nicht nur der Spielfreude abträglich, es kann auch dazu führen, dass Spieler niemals ein Handlungsniveau erreichen, das bei einem flüssigeren Spiel von ihnen zu erwarten wäre. In der Mehrzahl der Fälle ist die Situation vollkommen klar, es ist meist selbstverständlich, was als Nächstes zu geschehen hat. Dann hat es Vorteile, den Spielfluss zu fördern und das Spiel zu beschleunigen.

 

2. Ungleichheit der Kenntnisse: Führt das beschriebene Verfahren auch dazu, allen Spielern die Situation plastisch vor Augen zu führen, so muss dennoch bedacht werden, dass diese ein unterschiedliches Kenntnissniveau aufweisen können. Sobald sich Differenzen im strategischen und taktischen Verständnis zeigen, können die Entscheidungen zu faulen Kompromissen verkommen.

 

3. Nachteile in der Entscheidungsfindung: Das vorgestellte Verfahren beinhaltet die Gefahr, dass Entscheidungen ineffizient und suboptimal getroffen werden, weil zu viele Personen daran beteiligt sind. Die kollektive Entscheidungsfindung in einer Kampfsituation, die beim Pétanque ja gegeben ist, widerspricht jeder militärischen und historischen Erfahrung.

 

Will man sich hier am Wissen von Profis orientieren, sind das möglicherweise weniger die Meister des Pétanque, als vielmehr erfolgreiche Heerführer. Helmuth von Moltke d. Ä. äußert sich in seinen Schriften zur "Zusammensetzung der Hauptquartiere - Wahl des Feldherrn und Freiheit des Handelns" und berührt damit genau die Fragen, die uns hier interessieren. Folgende Aussagen und Zitate sind daraus entlehnt:

"Ein kühner Entschluss wird nur durch einen Mann gefasst" Nur ein Einzelner kann rasche Entschlüsse fassen, kühne Wagnisse eingehen, komplexe Strategien ersinnen und einen eingeschlagenen Kurs auch über länger Zeit beibehalten. Moltke erkennt zwar die Notwendigkeit der Beratung eines Feldherrn an, warnt aber vor einer Zersplitterung der Ansichten, die - in sich vollkommen stringent und begründet - sich gegenseitig aufheben und -da in unterschiedliche Richtungen weisend - letztlich zu einer Verzettelung des Handelns führen. Es ist besser, eine eingeschlagene Richtung konsequent beizubehalten, auch wenn sie das denkbare Optimum verfehlt, als durch zielloses Nachjustieren und Umorientieren - das Beste wollend - eine Lähmung der Kräfte herbeizuführen. Ein Feldherr kann und soll zwar Berater hinzuziehen, darf die Führung aber nicht an ein Kollektiv von Bedenkenträgern abgeben.

 

4. Beschränkung der Handlungsfreiheit: Es mag überraschen, dass gerade ein so demokratisches Verfahren, wie das eingangs beschriebene, die Handlungsfreiheit der Spieler einschränken soll - und doch ist es so. Wir finden wieder bei Moltke:

"Am unglücklichsten ist aber der Feldherr, der noch eine Kontrolle über sich hat, der er an jedem Tag, in jeder Stunde, Rechenschaft von seinen Entwürfen, Plänen und Absichten legen soll, einen Delegierten der höchsten Gewalt im Hauptquartier oder doch einen Telegraphendraht im Rücken" . Weil man einen Krieg nicht am grünen Tisch und aus der Ferne führen kann, weil die konkreten Umstände nur vor Ort zu erkennen sind, müssen die Entscheidungen eng bei den handelnden Personen verbleiben.

Unterstellt man die Spielführung einem Kollektiv, wird die Handlungsfreiheit gefährlich eingeengt. Ebenso wird ein Spieler, der die Gruppenbeschlüsse umsetzen soll, u. U. jener Handlungsfreiheit beraubt, die allein ihm ermöglicht, situationsadäquat zu agieren.

 

Feldherrenhügel - Überblick und einsame Entscheidungen
Feldherrenhügel - Überblick und einsame Entscheidungen

 

Das Erteilen von Aufträgen - Ein alternatives Verfahren:

Obwohl das herkömmliche Verfahren zweifellos hinreichend gut funktioniert, soll nun ein alternatives Verfahren vorgestellt werden, das einige der aufgezeigten Mängel behebt, ohne freilich selbst frei von Unzulänglichkeiten zu sein:

 

 

Sofern ein Spieler über ein umfassendes strategisches und taktisches Wissen verfügt und auch eine gute Kenntnis der Fähigkeiten und Psychologie der Mitspieler besitzt, kann dieser freiwillig von der Mannschaft mit der Funktion des Spielführers betraut werden. Er fungiert dann als "Feldherr", hat also in allen Entscheidungen das letzte Wort. Seine Aufgabe ist es aber nicht, den Mitspielern alles und jedes vorzuschreiben, sondern darauf zu achten, dass in der Ausrichtung des Spiels klar Kurs gehalten wird. Er soll Strategien ersinnen, Wagnisse eingehen, früh umsteuern, ohne lange Diskussionen heraufzubeschwören. Er soll das Spiel "lesen" und einheitlich interpretieren.

 

Ausdrücklich soll er nicht den Spielern detaillierte Handlungsanweisungen geben. Es ist unbedingt erforderlich, dass diese ihr Handeln nach eigenem Ermessen ausführen können, denn nur sie sehen die konkrete Situation und können diese zugleich anhand ihrer eigenen Fähigkeiten bewerten. Es wird also so sein, dass der Spielführer einen konkreten Spieler auswählt und ihm kurz zu verstehen gibt, was als nächstes erfolgen sollte. Dazu wird in den meisten Fällen sogar ein Nicken oder ein Blick genügen, denn sehr oft ist die Situation vollkommen klar zu erkennen. Dieser Spieler erhält also einen Auftrag, den er autonom umsetzt und von dem er abweichen kann, wenn er einen zwingenden Hinderungsgrund erkennt. So wird bei einer grundsätzlich hierarchischen Anlage des Spiels, dennoch ein Maximum an Handlungsfreiheit erreicht. Von allen Spielern wird jedoch eine hohe Aufmerksamkeit für das Spiel verlangt. Sie müssen ständig im Bilde sein. Die wichtigen Parameter müssen sie selbstständig erkennen. Ziel ist es, eine Kommunikationseffizienz zu erreichen, indem nur über die Fragen beraten wird, die wirklich strittig sind. Das sind in einem Pétanquespiel weitaus weniger als gemeinhin angenommen wird. Die Spieler sollen sich überwiegend mit den Faktoren beschäftigen, die zum Gelingen ihrer Handlungen beitragen. Bedenken sollen nur dann geäußert werden, wenn wirklich ein gravierender Fehler droht. Die Spieler sind also nicht Marionetten eines "Chefs", sondern Experten in ihrem Bereich, die dennoch einem einheitlichen Willen folgen.

 

In einem Kampf ist nahezu alles unsicher. Das ursprüngliche Konzept muss oft gleich nach Beginn angepasst werden, wenn Realität und Planung zusammentreffen. Zufälle und unbeeinflussbare Verhältnisse spielen immer wieder eine Rolle. Einzig konstante Faktoren sind Wille und Tatkraft des "Feldherren". Indem er das Spiel stetig liest und Anpassungen vornimmt, wo es zu entgleiten droht, gibt er ihm Struktur.

 

Das Spiel mit einem "Feldherren" bietet sich nur an, wenn ein Spieler wirklich über umfassende Kenntnisse verfügt. Es ist für Mannschaften geeignet, in denen ein erhebliches Erfahrungsgefälle besteht. Es eignet sich aber auch für Mannschaften mit nahezu gleichmäßigem Erfahrungsschatz, die gegen einen überlegenen Gegner antreten müssen. In diesen Fällen gilt es, das letzte aus der Mannschaft herauszuholen, Wagnisse einzugehen, die Reserven im rechten Moment aufzulösen.

 

Das Wort "Strategie" bedeutet "Feldherrenkunst". Sie richtig einzusetzen, entscheidet über Sieg und Niederlage. Bedingt durch ihr Wesen, kann das ein Einzelner besser leisten als eine Gruppe. Das Wesen der Strategie tiefer zu ergründen, wird Thema des nächsten Artikels sein.

 

"Ich habe diesen Feldzug geführt, ohne irgend jemand zu fragen.

Mir wäre nichts Nennenswertes gelungen,

wenn ich meine Unternehmungen mit anderen hätte beraten müssen."

Napoléon Bonaparte über den Feldzug von 1796

 

Dieser Artikel steht in enger Beziehung zu folgenden Artikeln: 

 

Führung im Pétanque, eine Verfassungsfrage 

Die Bedeutung der Strategie

 

Thorsten


Nachtrag:

Im Vorwort zu seinem Hauptwerk "Über die Demokratie in Amerika [1]" schrieb Alexis de Tocqueville:

 

"Nicht der Gebrauch der Macht oder die Gewohnheit zu gehorchen erniedrigt den Menschen, sondern nur der Gebrauch einer Macht, die er für illegitim, und der Gehorsam gegenüber einer Macht, die er für angemaßt und tyrannisch hält."

 

Im Pétanque ist Macht dann angemaßt, wenn sie auf unzureichenden Kenntnissen fußt. Eine Spielführung durch nur eine Person ist bei großem Kenntnisgefälle zweifellos nicht nur legitim, sie ist geradezu geboten. Sie ermöglicht erst jenes effiziente Handeln, in dem sich das Spiel voll entfaltet, wodurch letztlich - eben durch Anschauung - die Wissensunterschiede schließlich gemildert werden können. 

 

[1] Siehe: Alexis de Tocqueville - "Über die Demokratie in Amerika"  (RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK) 1985 S.23 


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