Gedanken zur Spielkultur


Ein sehr erfahrener Spieler gab mir anlässlich eines Gespräches über Pétanque zu denken als er bemerkte, dass es doch eigentlich darum geht, „den Mitspieler kennenzulernen“, ihn nicht „auf dem Weg zum Turniersieg einfach abzuhaken“.

 


Als hätten sie sich eigens versammelt, die letzte Herbstsonne zu feiern - "Blattgold" vor einem Wehr. Ihre verminderte Reisegeschwindigkeit verschaffte gefallenen Blättern einen spektakulären Auftritt. [1]
Als hätten sie sich eigens versammelt, die letzte Herbstsonne zu feiern - "Blattgold" vor einem Wehr. Ihre verminderte Reisegeschwindigkeit verschaffte gefallenen Blättern einen spektakulären Auftritt. [1]

Als Spieler bewegen wir uns, wann immer wir die Kugeln rollen lassen, in einem besonderen Spannungsfeld, häufig ohne uns dessen vollends bewusst zu sein: Wir wollen erfolgreich spielen und meinen, das durch kühle Effizienz bewirken zu müssen. Wir wollen aber auch schön spielen und dafür Anerkennung erfahren, uns der Technik zur Gänze bedienen, so wie es unsere bewunderten Vorbilder vermögen.

 

Anders als der Erfolg, der sich Notfalls noch herbeizwingen lässt, ist die Schönheit jedoch ein scheues Wesen; schnell flieht sie unser Spiel. Zum einen dann, wenn wir in der Lage sind, den Gegner ohne viel Federlesen zu überwinden – „abgehakt, wer ist der Nächste?“ Sie nimmt aber ebenso schnell Reißaus, wenn wir unter Druck geraten und uns die Niederlage drohend umwölkt – „Augen zu und durch, ein Schönheitspreis wird heute nicht vergeben“.

 

Bei schwierigen Aufgaben fühlen wir zudem die Notwendigkeit, uns ganz auf uns selbst konzentrieren zu müssen, wir panzern uns gleichsam, um vermeintlicher Anforderungen Willen. Dabei sollten wir eigentlich um die Notwendigkeit wissen, entspannt zu bleiben, das Gegenüber in unser Denken mit einzubeziehen, zueinander eine besondere Chemie aufzubauen und – oh Wunder – den Sieg als Dreingabe zu empfangen – die Frucht "en passant" zu pflücken.

Um des vordergründigen Erfolges Willen kommt es also leicht – wenn auch nicht zwangsläufig – zu einer Verkürzung der Spielkultur[2], werden wir zu stringent und individualistisch. Müssen wir uns da nicht eingestehen, dass Siege allein, nicht das sein können, wonach wir streben; dass das bloße Überschreiten einer Zielmarke nicht einzig die Faszination unseres Sportes ausmachen kann?

Sind es nicht allzu häufig die gewonnenen Spiele, die man eigentlich ganz schnell wieder vergessen möchte, solche in denen man knapp ins Ziel gestolpert ist, vom Zufall begünstigt, fern zeigen zu können, was eigentlich zu spielen man in der Lage wäre? „Erfolgreich“ nur, weil der Gegner vor der Niederlage noch ein Gran mehr Angst hatte und weil er dadurch um ein weniges mehr ins Stolpern geriet? Ein andermal unterliegen wir „schuldlos“ und sind uns doch bewusst, nur wenig falsch gemacht zu haben, bravourös kämpfend und unsere Möglichkeiten ausschöpfend, sind wir besseren Spielern unterlegen – vordergründig sollten wir betrübt sein und doch fühlen wir uns erstaunlich beglückt. Der Gegner und wir, gemeinsam frönten wir der Kunst, er war darin versierter und ließ uns teilhaben.

Es mag nun sein, dass bestimmte Turniermodi die oben beschriebene Misere begünstigen. Wer verliert, fährt heim, wer unterliegt, spielt weder schön noch simpel – er spielt gar nicht mehr. „In einem Krieg gibt es…“ wie Douglas MacArthur es lakonisch formulierte, „keine Alternative zum Sieg“. Ein Spiel zeichnet sich dagegen durch den Umstand aus, problemlos einen Neuanfang zu ermöglichen. Nach einer Runde kommt eben die nächste, was Raum für Kreativität und Experimente lässt, zugegebenermaßen aber auch die Gefahr der Beliebigkeit beinhaltet.

Nicht selten erlebt man es daher, dass sich die wahrhaft schönen Spiele erst nach dem Turnier entspinnen, wenn sich einander vertraute Spieler, deren Spielkulturen harmonieren, noch einmal zu einer Partie verabreden, nicht etwa, um noch einen weiteren Sieg an ihre Fahnen zu heften, sondern der reinen Spielkunst die Ehre zu geben, einander zu zeigen, was möglich ist. Das sind Spiele, auf die man sich in besonderer Weise einlassen muss – mag das auch spezielle Mühen erfordern, stets zahlt es sich aus.

 

Offensichtlich ist es die Einstellung, an der alles hängt: Wird zu eng gedacht, verdorrt die Spielkultur, wird der Kampf zum reinen sich Messen in technischen Fertigkeiten, werden Mitspieler zu Gegnern, die "ausgeschaltet" werden müssen. Wird jedoch ohne Ehrgeiz gespielt, degeneriert das Spiel und erreicht nie jenes technische Niveau, das der Quell langanhaltender Faszination ist. Mag sein, dass auch der Grad der Etabliertheit seinen Einfluss hat: Dem Neuling fällt die Bewunderung leicht, dem alten Hasen das Gönnen.

Was kann man tun? Sich erst einmal der Problematik bewusst werden, das Dilemma erkennen, um gegenzusteuern, wenn es nötig wird und überhaupt möglich ist. Gemeinsam mit Gleichgesinnten bewusst eine höhere Spielkultur anstreben und sie aktiv fördern. Gelungenen Aktionen der Gegner applaudieren[3], Experimente nicht unterbinden, auch wenn sich kurzfristig die Erfolgsaussichten mindern; Spiele nicht destruktiv angehen, niemals stören; nach dem Spiel nicht gleich heimfahren; sich mit den anderen austauschen; den anderen Publikum sein, wenn die eigenen Kräfte bereits geschwunden sind; die magische Wirkung gemeinsamen Essens und Trinkens erleben.

 

Wer das versucht, der lädt sich freilich das Bohren dicker Bretter auf, doch scheint der Preis der Mühe wert. Einmal etabliert, besteht Hoffnung, dass sich die Spielkultur wie von selbst weiter fortpflanze und weiter Blüte um Blüte treibe.

 

Thorsten


Abschließender Gedanke: Mit einiger Berechtigung ließe sich sagen, dass eine Partie Boule, die ausschließlich geführt wird, einen bestimmten Zweck zu erreichen, immer Gefahr läuft, ihren eigentlichen Sinn zu verfehlen. Paradoxerweise entsteht gerade in scheinbar sinnlosem Treiben etwas, dass unseren eigentlichen Interessen weithin entspricht. Es ist gerade das müßige Spiel, das uns Stunden der Muße beschert.  

 


[1] Ihre verminderte Reisegeschwindigkeit verschaffte gefallenen Blättern einen spektakulären Auftritt, indem sie sich vor einer Barriere stauten. Diejenigen aber, welche die Strömung fortriss, kamen zwar schneller voran, blieben jedoch gänzlich unbeachtet. Gesehen im Herbst 2018 am Okerwehr - Inselwall. 

[2] "Trotzdem sei es gesagt: Ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. Die menschliche Natur erträgt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass daraus keine schwerere Niederlage entsteht."

                                                                          Friedrich Nietzsche - Unzeitgemäße Betrachtungen

 

 „Pray that success will not come any faster than you are able to endure it.“(„Bete, dass der Erfolg nicht schneller kommen wird, als Du ihn ertragen kannst.“) – Elbert Green Hubbard, Schriftsteller und Essayist 

[3] Marc Aurel – Kaiser und Philosoph – war der Meinung: „Alles wahrhaft Schöne trägt seine Schönheit in sich selbst und ist in sich selbst vollendet. Anerkennung macht es weder schlechter noch besser.“ – Vermag auch Anerkennung dem Schönen nichts Schönes hinzuzufügen, so erzeugt sie aber eine schützende Sphäre um das kostbare Gut, auf das das Schöne nicht bereits zertrampelt werde, bevor sein Wert einer genügenden Anzahl Individuen bewusst werden konnte.