Hochportée


In die Höhe streben
In die Höhe streben

Es ist ein Charakteristikum des Pétanque, dass Ziele nur indirekt erreicht werden können – beim Legen muss zunächst ein Donnée getroffen werden, bevor die Kugel rollend ihr Ziel erreicht; beim Schießen wirft man die Kugel erst in die Höhe, worauf sie auf ballistischer Flugbahn ihr Ziel letztlich fallend trifft. Dieses Prinzip zeigt sich nirgends deutlicher als beim Legen in allerhöchstem Bogen – dem Hochportée: Hier wird das Werfen, das ja stets sowohl in die Höhe, als auch in die Weite geht, derart extrem ausgeführt, dass nahezu alles Wollen auf das „nach oben“ ausgerichtet ist, während das „nach vorn“ zu einem reinen Nebenprodukt schrumpft. Idealerweise wird hierdurch die Flugphase auf Kosten der Rollphase derart ausgedehnt, dass letztere nur wenige handbreit misst oder gar gegen Null strebt [1], und mit ihr der störende Einfluss des Bodens. 

 

Parabel - steil genug?
Parabel - steil genug?

Soll die Kugel also eine extreme Parabel beschreiben, soll sie vier oder gar sieben Meter aufsteigen, ist eine komplexe Bewegungsabfolge vonnöten, die den gesamten Körper umfasst, von der Fußspitze bis zu den Fingerkuppen. Sie zu beschreiben, muss des Autors Kunst versagen.

Ähnlich einem Klavierstück, dessen Noten zwar Abfolge und Tempo des Tastenspiels beschreiben; dessen Interpretation jedoch auf Gefühl und Erfahrung des Pianisten beruht, auf seinem Vermögen eben, alles harmonisch zu fügen, so entzieht sich die komplexe Bewegung der verbalen Beschreibung. Sie kann nur als Bild in der Vorstellung existieren und ist allein durch praktische Anwendung erlernbar. Man kann all ihre Faktoren benennen, und wird das Ganze doch nicht treffen. Allenfalls können schwierige Bewegungen durch Beobachtung annähernd erfasst werden. Die Rede vom „Stehlen mit den Augen“ beschreibt diese natürliche Form des Lernens recht prägnant [2].

Wollen wir uns in diesem Abschnitt dennoch dem Hochportée widmen, sind wir gezwungen, uns auf die Benennung einzelner wichtiger Komponenten zu beschränken und gleichzeitig zu überlegen, auf welche Weise sich der zunächst sehr ungewohnten Wurfvariante systematisch näherkommen lässt.

 

Anfänge

Ein Spieler, der am ausgestreckten Arm eine Kugel immerfort auf und abwärts bewegt, ohne sie loszulassen, erspürt bald am oberen Umkehrpunkt dieser Bewegung, wie die Kugel nahezu schwerelos wird. Damit lässt sich spielen, indem man die Kugel etwas weiter nach oben fliegen lässt, wobei sich die Hand von dem Objekt so leicht trennt, dass dieses in keiner Weise abeglenkt wird. Die Kugel steigt dann steil auf und fällt auch steil wieder herab. Mit derartigen einfachen Parabelwürfen, die den Nukleus des später zu erlernenden Hochportées bilden, lassen sich Ziele im Nahbereich von etwas über sechs Metern recht bequem anspielen. Der obere Scheitelpunkt der Parabel liegt dabei in etwa zwischen zwei und drei Metern Höhe. Durch Anwendung dieser Technik lernt man, dass der Haupteffekt des Hochportée in der fast vollständigen Abgabe der Bewegungsenergie an den Boden besteht, etwaig hinzukommender Rückdrall ist ein zusätzliches Element, keinesfalls aber die Hauptsache. Es gilt also, die zunächst gefundene Grundform der Parabel beibehaltend, immer weiter entfernte Données anzuspielen. Dabei muss streng darauf geachtet werden, sich die absolute Lockerheit aus dem Grundwurf jederzeit zu bewahren.

Fortschritte durch Köperspannung

Irgendwann ist das jedoch nicht mehr ohne Weiteres möglich, weil Kraft bzw. Schwung nicht ausreichen, die Kugel in Höhen zu befördern, die nötig sind, um ein weiter entferntes Donnée in steilem Fall anzuspielen. Bemerkbar ist dann, dass man entweder den Wurf zu flach anlegt oder einfach einen Punkt anspielt, der viel zu dicht am Kreis liegt. Um das zu Überwinden, ist es nötig, mit der Körperspannung zu arbeiten:

Gleich einem Basketballspieler, der beim Freiwurf seinen Körper wie eine Feder spannt, indem er zunächst die Knie leicht beugt, wobei sein Gewicht auf den Vorderfüßen lastet; und der beim eigentlichen Wurf den ganzen Körper im rechten Moment zur Unterstützung streckt, kann auch der Boulespieler verfahren. Steht man auf den Vorderfüßen, hebt dabei beide Fersen leicht an, beugt zudem die Knie leicht, so spürt man, wie eine Spannung den gesamten Körper durchzieht. Mit dieser Spannung zu arbeiten, sie im rechten Moment harmonisch mit dem Abflug der Kugel zu lösen, ist ein Element, das höhere Bogenwürfe erheblich besser gelingen lässt.

 

Allerletzter Augenblick

Die nach oben schnellende Hand darf dabei die Kugel erst im allerletzten Moment entlassen, was einiger Kaltblütigkeit und vieler Übung bedarf. Ein Winziges zu früh, und der Bogen ist zu flach gewählt, die Kugel schießt dann weit über ihr Ziel hinaus, ein Winziges zu spät, und der runde Stahl steigt nur senkrecht in die Höhe. Den rechten Moment sicher zu treffen, gibt es nur ein Mittel: Beharrliches Üben. Erst wenn, nach unzähligen Versuchen, die Bewegung ohne willentliches Zutun abläuft, wenn also das Unterbewusstsein den Moment des Loslassens bestimmt, und nicht der wache Verstand, verfügt man über einen Wurf, auf den im Spiel Verlass ist. 

 

Drall

Würfe, die in bisher beschriebener Weise ausgeführt werden, führen – abhängig von den Bodenverhältnissen – schon zu recht passablen Ergebnissen. Soll der Wurf jedoch noch weiter ins Extrem gesteigert werden, bedarf die Kugel eines erheblichen Dralls, der sie bremst. Dieses erfordert nun im wahrsten Wortsinne äußerstes Fingerspitzengefühl, denn nichts ist gewonnen, wenn durch starkes Abrollen an der Hand, die Kugel zwar enormen Drall erfährt, sie hierdurch aber die notwendige Gipfelhöhe nicht erreicht. Nur wenn das Geschoss mit der eingangs beschriebenen Leichtigkeit beherzt in die Höhe geschleudert wird, kann das gelingen. Jeglicher Drall muss sich der Kugel mitteilen, ohne sie im geringsten zu hindern. 

Der Blick

Mehr noch als in anderen Bereichen des Spiels, stellt sich beim Hochportée die Frage, wohin der Blick zu richten sei. Die Bahn der Kugel ist derart exzentrisch, dass es unmöglich ist, die Flugbahn bis zu ihrem Scheitelpunkt und gleichzeitig das zugehörige Donnée im Auge zu behalten. Das ist ein Dilemma, denn einerseits verlangt das Streben nach höchster Präzision volle Konzentration für den Aufschlagpunkt des runden Stahls, andererseits begehrt der kontrollierende Geist Rückmeldungen hinsichtlich des Wurfverlaufs – man muss die Flugbahn sehen, um peu a peu Verbesserungen bewirken zu können [4].

Es wird behauptet, Profis schauten nur auf ihr Donnée, da sie die Flugbahn der Kugel vollkommen internalisiert hätten. Eine Videoanalyse sät hier jedoch gewisse Zweifel [5]. Zwar ist es plausibel, dass der versierte Spieler sich seines Wurfes so sicher sein kann, dass die visuelle Kontrolle überflüssig erscheint; ebenso richtig ist es aber, dass Profis über ein derart ausgeprägtes räumliches Empfinden verfügen, dass sie in der Lage sind, praktisch jeden Punkt „blind“ anzuspielen, den sie einmal „ins Auge gefasst“ haben.

Gemäß der wichtigen Erkenntnis, dass es im Pétanque von Vorteil ist, zunächst bewegungsorientiert zu handeln – also danach zu streben, Bewegungen perfekt gelingen zu lassen - und sich erst dann der Zielorientierung zuzuwenden – also mit einer perfektionierten Bewegung zielgenau zu handeln – kommt man zu dem Schluss, dass der Übende die Flugbahn in den Blick nimmt, während der Spielende sich so lange den Luxus leistet, das Donnée zu fokussieren, wie er des Gelingens seiner Wurfbewegung sicher sein kann.

 

Handgelenk

Das Verhalten des Handgelenkes muss so bemessen sein, dass es durch lockeres Zurückschnappen den Wurf in idealer Weise unterstützt [6]. Es ist schwierig, die Bewegung recht Steil nach oben zu richten und dabei dennoch die Kugel derart an den Fingern abrollen zu lassen, dass ein brauchbarer Rückdrall entsteht. Besonders anfangs geschieht es nicht selten, dass der Wurf dabei vollkommen misslingt, indem die Kugel reflexhaft festgehalten wird, oder zu sehr von den Fingern gehemmt, einfach nicht genügend Geschwindigkeit aufnimmt. Hier hilft es, sich vorzunehmen, den Wurf unbedingt locker auszuführen und alles andere – also genaues Zielen und Rückdrall – als reine Nebenbedingungen anzusehen. 

 

Wenn ein Wurf derart hohe Anforderungen an das Koordinationsvermögen stellt, wenn er zudem das Zielen erheblich erschwert, stellt sich natürlich die Frage, warum er ins Repertoire aufgenommen werden sollte: Das scheint trotz allem sinnvoll, da per Hochportée noch gelegt werden kann, wenn leichtere Wege bereits verbaut sind; weil zudem nur ein kurzes Stück Boden genauer in Augenschein genommen werden muss; weil darüber hinaus der Einfluss des Untergrundes geringer ist und man so auch auf Bahnen bestehen kann, die nicht aus dem "Effeff" bekannt sind; und weil schließlich, bereits liegende Kugeln erheblich präziser angespielt werden können, als andere Techniken das erlauben.

Blitzschnell durchwandert der Impuls den Körper
Blitzschnell durchwandert der Impuls den Körper

Da Hochportée den ganzen Körper fordert, – denn dieser Wurf kann nur gelingen, wenn der Bewegungsimpuls in den Zehen beginnend, ungehemmt und flüssig den gesamten Spieler durchquert, bis er an den Fingerspitzen die Kugel entlässt – ist es eben diese Technik, die uns am besten das Wesen des idealen Werfens lehrt: Man muss den werfenden Körper als System begreifen, als ein Ganzes, dessen viele Einzelkomponenten es miteinander zu harmonisieren gilt. Mögen andere Wurfarten hier auch Kompromisse erlauben, mögen sie Fehler tolerieren, Hochportée verlangt Perfektion bei vollem Körpereinsatz. Was die Ästhetik anbelangt, ist Hochportée das Äquivalent zum „Tir au fer“ - kompromisslos effektiv und gleichzeitig schön anzusehen.  

 

Thorsten


[1] Ein Lehrvideo von Sönke Backens beschäftigt sich mit dem Hochportée und insbesondere mit dem Phänomen der sogleich nach Bodenkontakt zum Stillstand kommenden Kugel.

[2] Tatsächlich finden sich in der Literatur kaum brauchbare Beschreibungen dieser Wurfvariante.

[3] Es wird behauptet, dass die beim Tennis eingesetzten Balljungen, allein durch stetes Beobachten der Bewegungsabläufe und Spielzüge signifikante Vorteile beim Erlernen dieser Sportart haben.

[4] Wegen der positiven Effekte, die wir aufgrund der Überlegungen erwarten, die in dem Artikel "Der Mythos vom Zielen" ausgeführt werden, erscheint es zumindest zeitweilig durchaus Vorteilhaft zu sein, der Beobachtung der Flugbahn den Vorzug zu geben. 

Der Autor machte die folgende Erfahrung: Über dem Boulodrome wuchs ein Ast in 5m Höhe nahezu waagerecht, der perfekt dazu geeignet war, ihn zu überspielen. Diese hölzerne Hilfe bewirkte sofort eine erhebliche Verbesserung der Wurfergebnisse - ein Effekt, der sich bei weiteren Spielern ebenfalls sogleich einstellte. Darauf unternommene Wurfversuche in freiem Gelände, ohne die helfende Markierung, gelangen nach dieser Übung besser als zuvor. Dabei waren jene Würfe besonders gut, bei denen der Blick gen Himmel gerichtet war.

[5] Ein englischsprachiger Artikel geht dieser Frage auf den Grund.

[6] Siehe hierzu den Artikel "Handgelenk" und den externen englischsprachigen Artikel: "Hoch to throw a high lob?"

Anmerkung: Beide in den Fußnoten verlinkte englischsprachige Artikel enthalten sehenswerte Videos von Hochportéewürfen.


Bild, Giraffe: von HowardWilks auf Pixabay

Bild, Parabel: von David Mark auf Pixabay

Bild, Highway: von Frank Becker auf Pixabay