Und täglich spielt das Murmeltier


Überfällt Sie eigentlich auch immer dieses Schaudern, wenn Sie bestimmte Darstellungen von Boulespielern sehen? Diese Klischeebilder, in denen exzessiv lächelnde Rentner gemeinsam mit ihren Kindern und Wunschschwiegerkindern vor Bilderbuchkulisse die offensichtlich noch ungespielten Supermarktkugeln rollen lassen? Ein Bild, das so wenig der Realität entspricht, wie die glücklichen Hühner auf dem Eierkarton ihr Frühstücksei fabrizieren, oder die bronzierte Nixe von der Sonnenmilchreklame ihr nächster Urlaubsflirt sein wird. Wir alle, die es ob solcher Idyllen heftig gruselt; die wir wissen, dass das Leben kein Ponyhof ist, und Pétanque erst recht nicht, müssen jetzt sehr stark sein: Genau so sehen die uns, die „normalen“ Menschen da draußen. Denn genau wie Radfahrer mit ihrer eigentlich recht smarten Fortbewegungsart in Zeitungsberichten stets als „Radler“ daherkommen – eben etwas schräge und drollige Zeitgenossen, so kommen wir Kugelenthusiasten medial ausschließlich in der „pilcheresken“ und grenzdebilen Variante vor.

"Macht nichts, uns kennt ja keiner", so könnte man sagen, aber besteht denn nicht irgend Hoffnung auf Besserung der Lage? Schließlich ist ja der einst inflationäre Kommentar naseweiser Passanten, die einer Schar Pétanquespieler ansichtig geworden waren, „Das hat Adenauer auch schon gespielt!“ in letzter Zeit immer seltener zu hören. Nicht aber, so steht zu befürchten, weil die Bevölkerung mittlerweile den Unterschied zwischen Boccia und Pétanque zu erkennen vermag. Die Plage verschwand vielmehr durch moderne Telekommunikationsmittel. Dank Dauerglotzen auf die kleinen Scheiben wird man nicht mehr gesehen und wenn doch: „Hä, wer war Adenauer?“ Soweit so gut, die Wahrheit offenbart sich ohnehin nur dem, der genauer hinsieht. Wie also erklärt man dem Neugierigen das Wesen unseres Treibens; das oft erstaunlich verbissene Ringen? Spielen wir denn nicht alle um jener kindlichen Freude Willen, die uns aus den Abbildungen entgegenlacht?

In „Und täglich grüßt das Murmeltier“ ist Bill Murray gezwungen, denselben Tag immer und immer wieder zu durchleben – er ist in einer Zeitschleife gefangen. Dabei vollzieht er eine Entwicklung, die seinen Charakter wandelt. Durch diesen Kniff wird sein Leben zum Spiel – gleich was er auch anstellt, am nächsten Morgen sind die Dinge genau wie am Tag zuvor. Alles nur irgend Denkbare kann ausprobiert werden und wird es auch, bis aus der Ödnis vordergründigen Amüsements ernsthaftes Bemühen um persönliche Entwicklung wird. Ergeht es ähnlich nicht auch uns Spielern? Wie lange halten wir es aus, uns ausschließlich daran zu erfreuen, dass Kugeln das tun, was sie am besten können – rollen? Wie lange genügt es uns, dass die anderen das tun, was sie immer tun – da sein? Wann kommen die Ambitionen ins Spiel? Der Mühle des Immergleichen entkommen auch wir nur durch den Versuch, andere zu werden.

Stets aufs Neue treten wir an, haben Hoffnungen, Wünsche, Ziele; lassen die Kugeln rollen, scheitern, gehen Heim, fassen den Vorsatz, es nächstens besser zu machen. Peu a peu entwickeln wir uns dabei. Nicht nur der Einzelne verändert sich durch den immerwährenden Neubeginn, im Spiel wandelt sich auch seine Stellung. Das im Leben erreichte zählt wenig. Beim Boule werden die Karten neu gemischt. Hier gilt der etwas, dem die Kugeln ergeben gehorchen.

Wo Erfolg, Rang und Ansehen stets neu verteilt werden, da ist die heitere Gelassenheit der Philosophen ein eher seltener Gast. So sind wir Menschen nun mal. Da wird, in blinder Anbetung des äußeren Erfolges, geflucht und gehadert; gebangt und sich entzweit. Doch sind solch meist vorübergehende Entgleisungen der Vernunft tatsächlich Ausweis eines Irrweges? Haben wir aus einem, von mediterraner Sonne durchfluteten schönen Traum einen düsteren Albdruck werden lassen?

Mag sein, dass einst auch wir unsere ersten Kugeln klischeebehaftet warfen. Vielleicht wollten wir tatsächlich mit dem Glas Rotwein in der Hand, zwischen blühendem Lavendel, ermuntert von sonnengegerbten Greisen südlicher Lebensart frönen, oder dem, was wir dafür hielten. Unter dem glatten Abziehbild jedoch, fanden wir etwas ungleich Spannenderes: Das Leben als Spiel.

 

Thorsten


Adenauer und Boccia: https://de.wikipedia.org/wiki/Boccia