Drei Entwicklungsstufen des Spielers


Kyūdō, das japanische Bogenschießen, ist eine Sportart mit vielen zeremoniellen Bewegungsabläufen und tiefgründiger Philosophie. Der traditionelle Bogen ist asymmetrisch geformt und weniger präzise zu handhaben als andere Fernwaffen. Der Schütze muss daher die Unzulänglichkeiten seines Sportgerätes mit seinem Gefühl ausgleichen. Das ist der Grund dafür, warum sich zwischen den Einsichten, die im Kyūdō gewonnen wurden und dem Pétanque erstaunliche Parallelen finden lassen, denn auch beim Pétanque geht es ja letztlich darum, mit dem Gefühl zu treffen.

 

Aus dem Kyūdō stammt ein Schema zur Unterscheidung der Reifegrade von Bogenschützen, das auch Pétanquespielern nützen kann. Es lässt sie erkennen, auf welcher Stufe sie sich befinden, was von ihnen verlangt wird und wohin der Weg führt. Um den Artikel nicht zu lang werden zu lassen, verzichte ich darauf, die kyūdōspezifischen Aussagen zu referieren. Vielmehr übertrage ich deren Sinn auf das Pétanque und ergänze mit eigenen Einsichten. Ich hoffe, dem Geist des traditionellen Bogenschießens damit nicht zu viel Gewalt anzutun.

 Pétanque Tipps & Tricks - Boule Tipps & Tricks - Entwicklung - Drei Phasen
Ein Individuum - verschiedene Phasen

Ein sich stetig verbessernder Spieler durchläuft mit den Jahren drei Entwicklungszustände, die sich in der Qualität seiner Handlungen ausdrücken und in denen sich seine Herangehensweise fundamental verändert. Zwischen den einzelnen Phasen können große Zeiträume liegen; auch müssen sie sämtlich nacheinander durchlaufen werden, denn Abkürzungen gibt es nicht. Gleichwohl blickt man manchmal an besonders guten Tagen auf die nächsthöhere Stufe und vermag dabei zu erkennen, was noch möglich ist.

Reifegrade des Spielers:

Stufe: Rang: Was sich ereignet:
1 Schüler

Die Kugel trifft das Ziel.

Der Spieler zwingt die Kugel ins Ziel.

2 Jäger

Die Kugel will das Ziel auslöschen.

Die Kugel strebt "selbst" zum Ziel.

3 Meister

Die Kugel "verschmilzt" mit dem Ziel.

Kugel und Ziel sind eins.

Stufe 1: Auf dieser Stufe bist du ein Schüler. Du eignest dir die Grundlagen sorgfältig an und ringst mit der Technik. Du handelst nicht frei und kopierst was du siehst. Um Erfolg zu haben, musst du dich mühen. Dein Denken dreht sich um den Erfolg. Im Grunde spielst du, damit andere deine Leistung anerkennen. Als Schüler siehst du jede Aktion als Prüfung deiner Güte. Immer musst du dich beweisen. Gelingt dir etwas, wallt deine Emotion auf und du bist beflügelt. Scheiterst du, so fällst du in einen tiefen Abgrund. Schon geringe Veränderungen können dich aus dem Gleichgewicht bringen. Du weißt viel zu wenig, um zu erkennen, warum etwas gelingt oder misslingt. Dieses Ausgeliefertsein verunsichert dich.

Irgendwann erkennst du, dass dieser Weg an ein Ende gekommen ist. Es wird nicht besser, wenn du dich noch mehr um technische Dinge bemühst. Das Mühen selbst steht deiner Entwicklung im Wege, du musst einen neuen Weg gehen....

 

Stufe 2: Auf dieser Stufe erkennst du, dass du nicht mit den Kugeln ringst, sondern mit dir selbst. Es ist die Änderung der geistigen Einstellung, die dich weiterbringt. Du bist der Jäger, der einsam und aus Leidenschaft dem Wild nachjagt. Erlegst du es, ist das dein Lohn, nicht die Speise die es dir bringt, noch der Glückwunsch den man dir entbietet. Warum jubeln und aufwallen wenn man allein ist? Du allein bist der Souverän deines Handelns. Du erfreust dich an deinem unmittelbaren Tun, die Dinge werden leichter. Du verschwendest keine Gedanken an das Scheitern, du tust etwas, weil du es kannst, nicht weil es dir Anerkennung bringt. Wie bei der Katze, die sich den rollenden Ball schnappt, weil es ihre Natur ist, werden deine Taten unmittelbar und weniger berechnend. Dadurch wird dein Spiel kraftvoll und entschlossen und deine Bewegungen harmonisch. Du verstehst viel von der inneren Mechanik des Spiels und fühlst dich dadurch weniger ausgeliefert. Daraus schöpfst du Gelassenheit. Obwohl du wenig an den Erfolg denkst, hast du ihn.

So kannst du zufrieden mit dir sein. Gelegentlich aber hast du Phasen, in denen dir auf wundersame Weise alles gelingt. Dann spürst du, dass es noch eine weitere Stufe gibt...

 

Stufe 3: Auf dieser Stufe wirst du zum Meister. Du erkennst, dass du weder mit den Kugeln noch mit dir selbst zu ringen brauchst. Wenn du die Kugeln wirfst, befindest du dich ganz bei dir selbst. Du handelst nicht, du bist die Handlung. Dein Geist ist vollkommen entspannt aber dennoch hellwach. Erfolg spielt keine Rolle, Zweifel existiert nicht. Du fragst nicht, ob du dein Ziel triffst, du weißt es, weil es feststeht. Im Grunde hat sich der Treffer schon ereignet, bevor du die Kugel wirfst. Kugel und Ziel werden eins, sie verschmelzen. Gibt es dann überhaupt noch ein Ziel? Ist das noch ein Spiel? Geht es noch um etwas? Ist die Harmonie, die du bei deinem Tun empfindest, nicht alles, was ist?

Wenn du diese Stufe erstmals erfährst, währt sie nicht lang. Du haderst mit dir, weil du sie nicht festhalten kannst. Auch kannst du den anderen nicht jederzeit beweisen, dass du sie erklommen hast. Narr!!! Willst du denn wieder ein Schüler sein, der beurteilt wird? Dass du es nicht festhalten kannst, lässt dich zweifeln und weil du zweifelst, kannst du es nicht festhalten. Mag sein, dass du noch nicht so weit bist. Gehe weiter auf deinem Weg. Wenn du nicht mehr ankommen willst, erreichst du dein Ziel.

 

Anmerkungen:

- Die hier skizzierten Stufen sind als ein langfristiger Entwicklungstrend zu verstehen. Kurzfristig und besonders in den Übergangsphasen, kann man sich mal auf der einen und dann wieder auf der anderen Stufe befinden.

 

- Auf jeder der Stufen sind andere Dinge wichtig und richtig. Die Achtsamkeit, die man auf Stufe 1 den technischen Details zu widmen hat und die Beharrlichkeit, mit der man sie übt, sind nicht deshalb unwichtig, weil es eine höhere Stufe gibt. Umgekehrt sind die Dinge, die zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden, vorher von geringerem Belang.

 

- Es gibt Spieler, die ewig auf Stufe 1 verharren. Was ist die Ursache? Manche Menschen haben eine zögerliche Persönlichkeitsstruktur. Es fehlt ihnen an Selbstvertrauen. Das macht es schwer, die zweite Stufe zu erklimmen. Die Angst, Fehler zu begehen, ist dann größer als die Lust, Erfolge zu sammeln. Beharrliches Üben bringt erste Erfolge. Erfolge stärken das Selbstvertrauen.

 

- Haben Spieler hingegen auf Stufe 1 zu viel Selbstvertrauen, ist das ebenfalls nicht förderlich. Meist bringen sie dann den vielen Kleinigkeiten, die es zu lernen gilt, zu wenig Aufmerksamkeit entgegen. Die erste Stufe dient aber dazu, diese Dinge wie ein Schwamm aufzusaugen, auch wenn man sie nicht perfekt anwenden oder in einen größeren Zusammenhang bringen kann. Woraus soll ein größerer Zusammenhang bestehen, dem die Details fehlen? [1]

 

- Spielt ein Spieler ausschließlich mit Personen, die in ihrer Kunst weit über ihm stehen, hat er zwar den unschätzbaren Vorteil, sich vieles abschauen zu können, es wird ihm aber schwer, sein Spiel reifen zu lassen. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, Mitspieler zu suchen, die in ihrem Leistungsvermögen gleich oder sogar schwächer sind, um sich ausprobieren zu können. Der Spieler muss einen Entwicklungsprozess durchlaufen, bei dem es unerlässlich ist, das Maß der übernommenen Verantwortung zu steigern.

 

- Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit sind wesentliche Faktoren auf Stufe 1 Wachsendes Selbstvertrauen und ein unmittelbarer und entspannter Zugang zum Spiel und den Bewegungsabläufen, sind wesentliche Faktoren von Stufe 2. Auf Stufe 3 wird das Spiel dem Spieler zur zweiten Natur.

 

- Mit einiger Berechtigung könnte man sagen, dass man auf Stufe 1 noch nicht wirklich spielt, ebenso wie man auf Stufe 3 nicht mehr wirklich spielt.

 

- Bei dem, was zu Stufe 3 gesagt wurde, ist Skepsis sicher angebracht. Andererseits ereignen sich gelegentlich solche Phänomene, die allgemein als "Flow" bekannt sind. Sieht man Dylan Rocher beim Schießen zu, stellt sich der Glaube ein, dass es möglich ist:

http://www.dailymotion.com/video/xtusju_dylan-rocher-record-du-monde-au-tir_sport?search_algo=2

 

- Alles hier Zusammengetragene zeigt, wie wichtig Freude für die Entwicklung ist und wie sehr die Gier nach unmittelbarem Erfolg diese hemmt. Der wahre Erfolg liegt in der inneren Entwicklung des Spielers. Man ist daher gut beraten, Leistungsmaßstäbe immer wieder daraufhin zu prüfen, ob sie nicht zu plump und vordergründig sind.

 

 

Thorsten

 


[1]: Thomas Mann hat in den "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull" den hier aufscheinenden Gegensatz verarbeitet. Ich verlinke die Passage aus dem zweiten Kapitelsie beginnt mit den Worten: "Eine andere Grübelei, die damals oft meinen Geist unterhielt..."


Anmerkung: Dieser Artikel wurd von Darts1.de - Deutschlands größter Dartsseite - für eine Kolumnenreihe übernommen:  https://www.darts1.de/kolumnen/darts-und-petanque.php


Bild:

Kirschbaum auf dem Öselberg bei Wolfenbüttel im Frühjahr und Sommer. Hier wurde schon häufiger "Hanami 花見" - das japanische Kirschblütenfest - gefeiert. Nach langem Reifen und kurzem Erblühen fällt die Blüte im Augenblick vollendeter Schönheit. Das Streben nach Vervollkommnung bis zuletzt, ist ein Gedanke, der das Boulelexikon prägt.