Perfektionismus im Spiel


„Wie arm sind die, die nicht Geduld besitzen!“

                                      Shakespeare „Othello“, zweiter Akt, dritte Szene


Englische Landschaftsgärten sind nach einem raffinierten Prinzip gestaltet. Markante Zielpunkte, wie etwa Pavillons, Ruinen oder knorrige Bäume, sind über Sichtachsen weithin präsent. Niemals aber sind sie auf direktem Wege erreichbar. Der Wanderer muss Umwege gehen und erreicht das Ziel oft in dem Moment, da er es aus den Augen verloren hat.

 

Perfektionismus ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist er eine große Kraftquelle, lässt doch die permanente Unzufriedenheit mit dem Istzustand einen Menschen da weitermachen, wo andere bereits die Hände in den Schoß legen.[1] Andererseits strebt aber der Perfektionist etwas an, das allein den Göttern vorbehalten ist, kann also nur scheitern. Den Menschen wird das, was sie erstreben, zwar immer nahe genug sein, es zu kennen, und doch stets so fern, es niemals gänzlich zu erreichen - das gilt es auszuhalten.

 

Obwohl Perfektionisten eine überragende Leistungsbereitschaft und einen enormen Einsatz zeigen, versagen sie häufig im Spiel. Dass sie hinter ihren eigenen Leistungsansprüchen zurückbleiben, liegt dabei in der Natur der Sache. Häufig wird jedoch auch das tatsächliche Leistungsvermögen verfehlt. Beim Pétanque ist das in zwei Bereichen gut beobachtbar:

 

1. Individuelle Ebene: Perfektionisten haben überzogene Erwartungen an sich selbst und schätzen ihr aktuelles Leistungsvermögen daher falsch ein. Um den übersteigerten Erwartungen dennoch gerecht zu werden, versuchen sie durch große Willensanstrengungen den Mangel auszugleichen. Dabei geht die Lockerheit verloren, die für ein gutes Spiel unerlässlich ist. In dem Bestreben, keine Fehler zu begehen, wird gehemmt agiert. Da Risiko und Erfolg aber oft dicht beieinander liegen, tritt genau dadurch das Scheitern ein, das vermieden werden sollte.

 

2. Soziale Ebene: Pétanque ist ein soziales Spiel; man hat es nicht nur mit Gegnern, sondern auch mit Mitspielern zu tun. Für den Perfektionisten sind hier mindestens zwei Fallen ausgelegt. Zum einen hat er mehr als andere Menschen das Bestreben, den Ansprüchen seiner Mitmenschen gerecht zu werden, was zu einem übersteigerten Leistungsdruck führen kann. Zum anderen ist es des Perfektionisten Natur, sich von niemandem übertreffen zu lassen. Er beginnt daher, von dem eigentlichen Wettkampf abzulassen und widmet sich dem Wetteifer mit den beteiligten Personen, wozu auch Teammitglieder zählen.

 

Auf beiden Ebenen liegt die Ursache des Scheiterns in der Ablenkung der Konzentration und der Hinwendung zu Zielen, die mit der unmittelbaren Handlung nur in mittelbarem Zusammenhang stehen. Das Erreichen eines angestrebten Leistungsniveaus, die Erfüllung der Ansprüche Dritter und das Ausstechen von Konkurrenten sind Gedanken, die man, im Kreis stehend, unbedingt ausklammern sollte, da sie zum Gelingen der eigentlichen Handlung nicht das Geringste beitragen.

 

Das Erkennen des Problems ist nun das eine, es zu meistern ist etwas ganz anderes. Perfektionismus ist ein starker innerer Antrieb, der sich kaum einfach unterdrücken lässt. Einem Perfektionisten zu raten, doch einfach weniger anspruchsvoll zu sein, ist illusorisch.

 

Ein vielversprechender Ansatz ist das Umlenken des inneren Antriebes auf ein höheres Ziel. Genau genommen ist ja nicht das Streben nach Perfektion das eigentliche Problem, sondern der Versuch, sie sofort und mit ungenügenden Voraussetzungen zu erlangen. Ein Perfektionist, der das Paradox begreift, dass gerade das übersteigerte Bemühen um Vollkommenheit sein Handeln unvollkommener macht, ist einen Schritt weiter. Wie in einem englischen Landschaftsgarten darf sich der Perfektionist nicht unmittelbar auf das Ziel zubewegen. Solange er es im Sinn behält, kann er getrost den vorgegebenen Wegen folgen und wird sich auch dann dem angestrebten Punkt weiter nähern, wenn dieser seinem Blick entschwunden ist. Gibt er hingegen seinem inneren Drang nach, das Ziel sofort zu erreichen, verlässt er also den Weg und wandert über den Rasen entlang der Sichtachse, so zerstört er die perfekte Konzeption, die dem Parkensemble innewohnt.

 

 

Sich dem Ziel nähern ohne Abzukürzen
Sich dem Ziel nähern ohne Abzukürzen

Übertragen auf das Spiel bedeutet das, eine solche Person will letztlich nicht spielen, sondern strebt einen ungefährdeten Erfolg an. Den aber gibt es im Wettbewerb nicht. Wer spielen will, muss einen Weg finden, das Scheitern zu akzeptieren. Der Reiz liegt im Wagnis, nicht in der Perfektion. Die Handhabung der Unzulänglichkeiten ist die eigentliche Herausforderung. Das Streben nach Perfektion ist nur als Fernziel sinnvoll. Wo es auf eine lange - seien wir ehrlich - niemals endende Entwicklung ausgerichtet ist, hat es eine positive Wirkung.

  

Thorsten


Wir sollten nach Vollkommenheit streben. Wir sollten sie nicht sofort erreichen, aber wir sollten trotzdem danach streben. Wir können Fehler machen - aber es dürfen niemals Fehler sein, die aus Schwäche des Herzens oder der Aufgabe moralischer Grundsätze resultieren.[2] 

 Franklin D. Roosevelt,

anlässlich seiner vierten Amtseinführung


[1] Insofern ist ein starker Ehrgeiz in der Anfangszeit sicher nicht gänzlich von Übel, wenn es gilt, vieles in sich aufzunehmen und auszuprobieren. Der Nutzen dürfte aber mit der Zeit nachlassen. Bestimmte Ausprägungsformen des Ehrgeizes zählen zu den Dingen, die ebenso geeignet sind, uns wachsen zu lassen, wie uns zu zerstören.

[2] "We shall strive for perfection. We shall not achieve it immediately — but we still shall strive. We may make mistakes — but they must never be mistakes which result from faintness of heart or abandonment of moral principle."


Ergänzung: In den "Buddenbrooks" äußert der Makler Gosch in einem Gespräch mit Senator Thomas Buddenbrook:

 

"Aber waren Ideale dazu da, erreicht und verwirklicht zu werden? Keineswegs! Die Sterne, die begehrt man nicht, aber die Hoffnung . . . oh, die Hoffnung, nicht die Erfüllung, die Hoffnung war das Beste am Leben. L’espérance, toute trompeuse qu'elle est, sert au moins à nous mener à la fin de la vie par un chemin agréable*. Das hatte La Rochefoucauld gesagt, und es war schön, nicht wahr?"

 Siehe: Thomas Mann, Buddenbrooks, Teil 9 – Viertes Kapitel

 

*„Die Hoffnung, so trügerisch sie auch ist, hat zumindest den Nutzen, uns auf einem angenehmen Weg ans Ende des Lebens zu führen.“ – La Rochefoucauld,  Maximes, 185


Anmerkung: Dieser Artikel wird ergänzt durch die Beiträge: Vom Wert realistischer Einschätzungen - Schach, Poker und Pétanque und Meisterschaft

 

Bild: Der als Blickfang dienende "Monopteros" im Englischen Garten in München