Hintertüren


Kurzfristige und Langfristige Ziele in Konkurrenz


Praktisch zum Entweichen - die Hintertür. Ist sie verschlossen, heißt es standhalten.
Praktisch zum Entweichen - die Hintertür. Ist sie verschlossen, heißt es standhalten.

Kluges Vorgehen ist oft Schlüssel zum Erfolg. So lehrt es Sunzi [1] in einer der ersten Schriften über Strategie, so empfehlen es die 36 Strategeme. Ebenso beschäftigt sich eine Fülle von Tipps in diesem Lexikon damit, beim Boule eigene Stärken zu erkennen und hierdurch den Gegner auszustechen.

 

 

Zwangsläufig führt das mit der Zeit zur Bevorzugung bestimmter Spielweisen. Diese werden als vertrauter empfunden, häufiger eingesetzt, und daher erfolgreicher ausgeführt. Im Pétanque existiert aber zu jedem Wurf eine technisch anspruchsvollere Alternative, die Vorteile verspricht. Wird gut Beherrschtem stets Vorrang gegeben, um die konkrete Situation zu meistern, kommen ungewohnte Würfe zu kurz, werden nicht hinreichend geübt und verkümmern. So fungieren die Standardwürfe als "Hintertüren", durch die man vor der Herausforderung bequem entweichen kann.

 

Was genau ist gemeint? 

Einige Beispiele:

 

Flachschuss / Eisenschuss (Tir devant / Tir au fer)

Ein Spieler, gewohnt die Kugel beim Schuss stets ein Stück vor dem Ziel aufzusetzen, wird im Spiel immer einen Grund dafür finden, warum der Eisenschuss nicht angebracht sei. Entweder erscheint die Entfernung als zu groß oder die Situation als zu wichtig, um die schwierigere Variante zu versuchen.

 

Legen / Schießen

Der überwiegend mit dem Legen vertraute Akteur wird nahezu jede Situation so zu interpretieren wissen, dass sein Metier als das gegenwärtig gebotene erscheint, was ihn dann von Schüssen absehen lässt.

 

Steile Flugbahn / Flache Flugbahn

Die Präferenz für das nah dem Kreise gelegene Donnée führt zwar zu einer Versiertheit im Spiel "mit dem Boden", diese Gewöhnung an lange Kugelwege macht aber blind für weiter hinten sich bietende Optionen und lässt die schwierigen Hochportéewürfe immer als undurchführbar erscheinen.

 

Günstige Böden / Ungünstige Böden

Auf "Terrain libre"[2] gelingt es leicht, die dem Erfolge abträglichen Zonen zu meiden und das Spiel in "lindere Gefilde" zu lenken. So bleibt der schwierige Grund immer ein zu meidender Bereich, dem sich anzupassen einfach nicht gelingen will.

 

Diese Beispiele illustrieren das Problem und könnten beliebig fortgesetzt werden: Um des kurzfristigen Erfolges willen wird die langfristige Entwicklung vernachlässigt. Was momentan geboten erscheint, erweist sich auf lange Sicht als ungenügend. Das Streben nach schnellem Erfolg verführt zur Einseitigkeit.

 

Pétanque ist ein Sport, in dem das reine Training eher ein Schattendasein führt [3]. Im Grunde üben sich die Akteure im Spiel und es ist wichtig, dabei die langfristige Entwicklung nicht aus den Augen zu verlieren. Dazu müssen die "Hintertüren" irgendwann verschlossen werden, auf dass kein anderer Weg zu beschreiten bleibe, als der schwierigere – und koste es zunächst auch Siege. Fest zu diesem Vorsatz zu stehen, bedeutet zu riskieren, dass es nach der Partie heißt: „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato.[4]“ Belässt man es hingegen bei den eingespielten Standards, mag man am Ende des Tages zwar triumphieren und hat doch dabei nichts an Stärke hinzugewonnen.

 

Die Herausforderung liegt freilich darin, das rechte Maß zu finden. Zu wenig, und der Übungseffekt bleibt aus; zu viel, und das Spiel verliert den Wettkampfcharakter. Immer wieder bieten sich jedoch Gelegenheiten, sei es bei komfortabler Führung oder bei deutlich unterlegenen Gegnern, die eigenen Fertigkeiten zu fördern. Bleiben sie ungenutzt, ergeht es einem wie einst König Pyrrhos [5] – der Schlachten werden dann viele gewonnen, nicht aber der Krieg.

 

 Thorsten


[1] Sunzi – Die Kunst des Krieges

     München: Droemer Knaur 1988

[2] Spielfelder ohne abgesteckte Bahnen, wodurch der Platz in seiner Gänze bespielt werden kann.

[3] Siehe hierzu auch: Üben oder nicht üben?

[4] Victrix causa deis placuit, sed victa Catoni - „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, aber die besiegte dem Cato.“ Im Römischen Bürgerkrieg, der schließlich zum Ende der Republik führte, stand Marcus Porcius Cato der Jüngere im Lager der verfassungsmäßigen Ordnung. Julius Caesar aber gewann bei Pharsalos (48 v. Chr.) die entscheidende Schlacht. Dichter Lukan kommentierte dieses Festhalten an einmal als richtig erkannten Grundsätzen - bis in die Niederlage hinein - mit obigem Zitat.

[5] König Pyrrhos I war ein Feldherr der Antike. Gegen die Römer errang er Siege. Nach der verlustreich gewonnenen Schlacht bei Asculum tat er den Ausspruch, der die noch heute gebräuchliche Rede vom "Pyrrhossieg" begründete: "Noch so ein Sieg, und wir sind verloren."

Pyrrhos hatte erstrebt, durch Erfolge die Bundesgenossen der Römer zu beeindrucken und sie zu einem Lagerwechsel zu bewegen. Dazu kam es nicht und durch die erheblichen Verluste erodierte des Königs eigene Macht anstatt zu wachsen. Sie erwies sich letztlich als unzureichend.

Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Pyrrhos_I.


Erfahrungsbericht: Der Autor hatte einst bemerkt, dass seine Trefferquote bei Eisenschüssen zunahm, dieses sich jedoch hauptsächlich in der Einspielphase ereignete. Er fasste den Entschluss, sich Flachschüsse für eine Übergangsphase grundsätzlich zu versagen. Tatsächlich verbesserte sich daraufhin das Spiel kontinuierlich. Dieses beruhte auf dem Schließen der "Hintertür" im oben dargestellten Sinne. Die positive Wirkung liegt dabei nicht in der Vermehrung der Eisenschüsse und dem zu erwartenden Übungseffekt allein. Sie dürfte ebenso darauf beruhen, dass, indem nur noch eine Möglichkeit zur Verfügung steht, alle Konzentration in das Gelingen derselben fließt. Der Zweifel, ob die gewählte Variante die rechte sei, verliert so jegliche Angriffsmöglichkeit. Nach längerem Fortgang ereignete es sich, dass die einst so vertrauten Flachschüsse nicht mehr recht gelingen wollten. Vermutlich zu einem geringeren Teil aufgrund der mittlerweile geschwundenen Vertrautheit. Vielmehr steht zu vermuten, dass ein unbewusstes Empfinden, sich für die schlechtere Variante entschieden zu haben, die Konzentration störte. Auch darin zeigt sich, wie wichtig es ist, vor dem Handeln mit sich selbst vollkommen im Reinen zu sein.


Anmerkung: Die in diesem Aufsatz vertretene These steht in gewissem Widerspruch zu der Herangehensweise, die in den Texten "Techniker" und "Chrom" beschrieben wird. Dieses erklärt sich aus dem nicht weiter auflösbaren Gegensatz zweier Zielsetzungen, denen jeder Spieler unterliegt, nämlich einerseits eine konkrete Partie unbedingt gewinnen zu wollen, und andererseits das eigene Können stetig erweitern zu müssen. Daher wird im hier aufgeschlagenen Kapitel "Entwicklung" Letzterem der Vorzug gegeben, während an anderer Stelle Ersterem Raum gegeben wird.  


Bild: Tür in einem verfallenen Turm nahe Derneburg