Kugelvorteil und Initiative


Im Western werden Feuergefechte häufig mit Revolvern ausgetragen. Ein Schütze spannt Mal um Mal den Hahn seiner Waffe, betätigt den Abzug und verfeuert so seine  Patronen, so lange bis die rotierende Trommel leergeschossen ist. Meist haben dann sechs Kugeln den Lauf verlassen. Verbraucht ein Schütze seine Munition zu schnell, kommt er in eine missliche Lage, denn während des Nachladens wird er eine Zeit lang wehrlos sein; mit nur noch einer Kugel im Lauf wird er kaum effektiv kämpfen können. So ist er "festgenagelt" bis auch der Kontrahent sein Pulver verschossen hat. 


Zeitweilig mehr Munition einsetzen zu können, bedeutet also einen taktischen Vorteil[1], woraus sich freilich nicht schon automatisch der Ausgang des Gefechtes folgern lässt. 


Verfügt eine Mannschaft über mehr spielbare Kugeln als ihr Gegner, wird das als "Kugelvorteil" bezeichnet. Im Pétanque ist es von großer Bedeutung, nicht in „Kugelnachteil“ zu geraten bzw. aus eigenem Kugelvorteil maximalen Nutzen zu ziehen. Besagten Vorteil genießt das antwortende Team bereits nach der ersten gelegten Kugel einer Aufnahme.

Folgendes Video (Madagaskar vs. Thailand) zeigt, wie aus diesem Umstand sechs Punkte resultieren, indem alle Gegnerkugeln erfolgreich entfernt werden, während die eigenen auf dem Spielfeld verbleiben: (https://www.youtube.com/watch?v=CRhzOzfzhPI). (Siehe hierzu auch: "Durchschießen")


Kugelvorteil bedeutet: Sind alle folgenden Würfe erfolgreich - d.h. die des Gegners und die eigenen - so bewahrt das Team mit dem Überhang an zu spielenden Kugeln unweigerlich den Punkt. Je versierter also das Spielen, desto sicherer wird ein Kugelvorteil in Zählbares umzumünzen sein. Mit mehr spielbaren Kugeln ist man auch eher in der Lage, initiativ zu werden - also dort anzugreifen, wo man möchte.

- Der Begriff „Kugelvorteil“ beschreibt lediglich die Quantität. Ob daraus Nutzen zu ziehen ist, hängt ab vom Können und Wollen der beteiligten Spieler und der speziellen Situation. Um solch qualitative Aspekte in das Kalkül mit einfließen zu lassen, bedarf es daher eines zusätzlichen Begriffes: "Initiative".


Sowohl im Schach als auch im militärischen Sprachgebrauch findet der Ausdruck „Initiative“ Verwendung. Hat jemand in einem Konflikt die Initiative, so diktiert er das Gesetz des Handelns, während der Gegner nur reagieren kann [2]. Im Schach kann beispielsweise durch ständige Schachgebote das Handeln des Gegners stark beschränkt werden. Dieser ist dann zunächst gezwungen, die Bedrohung zu beenden, bevor andere Züge möglich werden. Solange dem König immer wieder Schach geboten wird, liegt die Initiative beim Angreifer. Im Gegensatz zum Schach ist es jedoch im Pétanque nicht sicher, ob Handlungen in ihrer Ausführung gelingen. Erst Wollen und Können ergeben gemeinsam ein stringentes Spiel. 

 

Mit Kugelvorteil ist es möglich - und auch geboten -, das „Gesetzt des Handelns“ an sich zu reißen und den Gegner gehörig unter Druck zu setzen. Das geschieht im Pétanque meist, indem geschossen wird. Dabei ist freilich die spielerische Qualität der Akteure sowie das jeweilige Kugelbild von Belang. Ein hoher Kugelvorteil nützt wenig, wenn die erforderliche Aktion nur mit geringer Erfolgswahrscheinlichkeit ausgeführt werden kann. Der Gegner wird das erkennen, und sich kaum in seinem Handeln eingeengt fühlen.

Beispiel: Gibt sich der Gegner beim Schießen regelmäßig die Blöße, darf ein Team auch mit einer Minderzahl an Kugeln darauf bauen, den Punkt zu behalten, sofern auch nur eine davon gut platziert wird. Dieselbe Situation gegen einen sehr versierten Schützen wird jedoch fast immer zum Punktverlust führen. 

 

Allgemein beschränkt bereits hohe spielerische Qualität des Gegners Handlungsoptionen erheblich, was sich durch Kugelvorteil dann noch verstärkt. Quantität und Qualität sind demnach stets gemeinsam zu betrachten. [3]

 

Kugelvorteil wirkt sich in dreierlei Weise aus:

  1. Rein numerisch, indem eine Mannschaft mehr Versuche hat, die konkrete Aufgabe zu lösen, wodurch selbstverständlich die Wahrscheinlichkeit eines günstigen Ausganges steigt. Spieler profitieren zudem davon, den gleichen Wurf nach Fehlversuch korrigierend erneut ausführen zu dürfen.

  2. Taktisch, indem es einen Vorteil darstellt, sich nicht festgelegt zu haben, und noch über Handlungsoptionen zu verfügen. Hierdurch ist es dann möglich, den Schwerpunkt da anzusetzen, wo es den größten Erfolg verspricht. Das benachteiligte Team ist hingegen in der Defensive, was meist bedeutet, die eigenen Kräfte verzetteln zu müssen. [4]

  3. Psychologisch, indem sich der Überhang an Handlungsoptionen der einen Seite, beim unterlegenen Part als empfundene Bedrohung manifestiert, die häufig mit einer Abnahme der Qualität des Handelns einhergeht. 


Zur Verdeutlichung aller hier diskutierten Zusammenhänge folgen nun fünf Beispiele. In Ergänzung zum Text wird hier gezeigt, wie das jeweilige Kugelbild gelegentlich die Erlangung der Initiative erschwert:


Boule - Petanque / Tipps & Tricks: Kugelvorteil 1

Beispiel 1: Initiative bewahren bei Kugelvorteil

Bild1: Rot und Blau haben jeweils noch 2 Kugeln zu spielen. Rot hat zwei schwache Kugeln am Boden (A+C). Die nicht sichtbaren Kugeln haben das Spielfeld verlassen. Blau muss legen und legt Kugel (I). Rot ist danach im Kugelvorteil. Rot schießt mit (J) und entfernt die blaue Kugel (I). Damit erhält sich Rot den Kugelvorteil und die Initiative, denn Blau bleibt nichts übrig als erneut zu legen (K). Rot hat noch eine Kugel (L) und kann auf (K) für zwei Punkte schießen. Durch konsequentes Handeln wurde dem Gegner hier das Spiel aufgezwungen.


Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Kugelvorteil 2 / Boulelexikon

Beispiel 2: Verlust der Initiative bei Kugelvorteil

Bild 2: In diesem Beispiel verteidigt Blau seinen eigenen Kugelvorteil weniger konsequent und verliert letztlich die Initiative: Rot und Blau haben jeweils noch zwei Kugeln. Rot legt knapp hinter die Sau (A). Blau antwortet mit (B) und liegt somit besser.

Rot möchte nun mit seiner letzten Kugel keinen riskanten Schuss mehr wagen. Rot legt daher die Kugel (C) direkt an die blaue Kugel (B). Blau hat zwar jetzt Kugelvorteil aber die Initiative verloren, denn die Handlungsoptionen gehen gegen Null. Da die Gefahr besteht, die eigene Kugel (B) herauszudrücken, verzichtet Blau auf das Spielen der letzten Kugel.


Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Kugelvorteil 3 / Boulelexikon

Beispiel 3: Der Wechsel der Initiative

Bild 3: Rot hat eine Kugel (A) neben die Sau gelegt (Bastard). Blau versucht, es besser zu machen, zeigt aber eine katastrophale Legeleistung.

Die blauen Kugeln (B) und (C) laufen durch, (D) und (E) sind zu kurz. Schließlich legt Blau mit (F) noch einen gute Kugel, hat aber nur noch eine auf der Hand. Rot hat nun erheblichen Kugelvorteil (5 zu 1), wenn Rot (F) entfernen kann, übernimmt es die Initiative. Blau muss dann erneut legen, da seine bisherigen Kugeln einfach zu schlecht sind. Rot schießt also auf (F), verfehlt jedoch; auch ein weiterer Versuch scheitert. Rot hat immer noch Kugelvorteil, sorgt sich aber, die eigene Kugel (A) bei einem weiteren Schuss zu entfernen. Daher legt Rot die Kugeln (G) und (H), die aber vorne hängenbleiben. Ob der Misserfolge nervös geworden, verlegt Rot seine letzte Kugel (I). Rot hat technisch schlecht gespielt und auch den taktischen Fehler begangen, seine Bemühungen um die Initiative zu früh einzustellen. Die Folgen sehen wir in Bild 4.


Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Kugelvorteil 4 / Boulelexikon

Bild 4: Nach dem furchtbaren Beginn hat Blau nun eine Kugel Kugelvorteil. Blau könnte sich mit dem einen Punkt begnügen, entschließt sich aber aus der gewonnenen Initiative das Maximum herauszuholen. Da sich Blau keinen Schuss zutraut, spielt es ein blitzsauberes Hochportée in Richtung der Sau. Die blaue Kugel (J) entführt die Sau nach hinten, wo Blau 4 Punkte einfährt und erstmal durchatmen muss.

 

Beispiel 4: Initiative behaupten ohne Kugelvorteil

Mannschaft Rot beginnt die Partie und setzt sich das strategische Ziel, den blauen Schützen früh "leerzuspielen". Der rote Leger spielt glänzend und platziert seine Kugeln stets in unmittelbarer Nähe des Schweinchens. Der blaue Schütze ist gezwungen zu schießen. Obwohl Rot hier ohne Kugelvorteil agiert, behält es dennoch die Initiative, da es Blau sein Spiel aufzwingt.


Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Kugelvorteil 5 / Boulelexikon

Beispiel 5: Kugelvorteil aber keine Initiative

Bild 5: Beim Stande von 12:12 hat Mannschaft Rot noch 2 Kugeln. Mannschaft Blau hat 3 Kugeln und 2 Punkte am Boden. Mannschaft Rot legt nun die Kugel C absolut zwingend. Blau hat nun einen Kugelvorteil von 2 Kugeln, die Initiative ist aber bei Rot. Solangen Blau die Kugel C nicht entfernt, ist das Spiel verloren. Trotz Kugelvorteils für Blau diktiert Rot das Gesetz des Handelns.   

 


Eine Pétanquepartie sollte man grundsätzlich so anlegen, dass keine Kugel verschwendet wird; dass die erwartet Folge eines Wurfes dem Gegner ein Maximum an Druck aufbürdet, während sie der eigenen Mannschaft die Chance auf ein Maximum an zu erringenden Punkten belässt. Dabei gilt es freilich, das Erreichbare am Möglichen zu wägen. Die "Taktik des sechsmaligen Schießens" aus dem Eingangsbeispiel wird eben nur dann erfolgreich sein, wenn auch der letzte Schuss trifft.   


Legen bedeutet sich festlegen. Schneller als einem lieb ist, liegt man dann fest.
Legen bedeutet sich festlegen. Schneller als einem lieb ist, liegt man dann fest.

 

 

 

 

Gerate nicht leichtfertig in Kugelnachteil.

Lege dich nicht frühzeitig fest!

Nutze beherzt deinen Kugelvorteil!

  

 

Thorsten


Interessanter Zusammenhang: Die Einführung der industriellen Massenfertigung geht auf Samuel Colt zurück, der bei der Produktion seiner Revolver auf standardisierte und damit austauschbare Teile setzte - lange vor Henry Ford. Zuvor hatten Waffenschmiede ihre Produkte stärker handwerklich gefertigt, was dazu führte, dass Teile an die jeweilige Waffe eigens angepasst werden mussten und dann auch nur in dieser funktionierten. Die Trommel eines Revolvers einer bestimmten Modellreihe der Marke "Colt" funktionierte jedoch in jeder dieser Waffen, was die Produktivität der Herstellung ungemein erhöhte. 

Auch im Pétanque spielt die Standardisierung eine große Rolle - hier sind es Bewegungen, die möglichst nicht voneinander abweichen sollen. Standardisierte Bewegungen erlauben Treffer "wie vom Fließband". (Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Colt)

 


[1] Ein Phänomen, dass auch in der modernen Militärtaktik eine Rolle spielt und hier als „Surpression Fire“ bezeichnet wird: https://en.wikipedia.org/wiki/Suppressive_fire

[2] Versiertes Spielen zeigt sich darin, dass Punkte gewonnen werden, obwohl der Gegner erfolgreich handelt. Es wird nicht auf Fehler oder Missgeschicke gewartet, sondern Druck ausgeübt.

Neulinge spielen ihre Kugeln wenig stringent, mit hohem Zufallsanteil. Sie warten einfach ab, was sich ergibt und hoffen darauf, der Gegner werde letztlich mehr Fehler begehen als sie selbst. Erfahrene Spieler versuchen hingegen, mit jeder Kugel Druck auszuüben; den Gegner in die Enge zu treiben; ihm das Spiel zu diktieren. Sie sind dabei nicht darauf angewiesen, dass er wirkliche Fehler begeht. In solchen Spielen, die immer ein hartes Ringen um die Initiative darstellen, ist jederzeit offenbar, dass keine Kugel verschwendet werden darf.

[3] Spielen „Profis“ gegen „Amateure“, geschieht meist das Folgende: Die Profis legen stets zwingende Kugeln, die von den Amateuren per Legen kaum übertroffen werden können. Im Versuch, diese zu entfernen, brauchen die Amateure zu viele Anläufe, haben also Fehlschüsse, die sie sich nicht leisten können. Eine doch eher zufällig gut platzierte „Amateurkugel“ kann dann sorglos von den Profis in dem Wissen angegriffen werden, mehrere Versuche zu haben, die meist aber nicht benötigt werden. Die Amateure werden in dem Spiel niemals das Gefühl haben, das Handeln zu diktieren, stets sind sie in Zugzwang, die Initiative liegt klar bei den Profis. Spielen dagegen "Profis" gegen "Profis", gelingen deren Handlungen ganz überwiegend. Ein Kugelrückstand von nur einer Kugel kann dann schon den Verlust der Initiative bedeuten.

[4] Diesen Zusammenhang hat der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz in seinem Buch "Vom Kriege" prägnant beschrieben. Er ist auch als "Gesetzmäßigkeit von der abnehmenden Kraft des Angriffs" bekannt: 

 

"Die Schwächung der absoluten Macht entsteht:

1. Durch den Zweck des Angriffs, das feindliche Land zu besetzen...

2. Durch das Bedürfnis der angreifenden Armeen, das Land hinter sich zu besetzen, um sich die Verbindungslinien zu sichern und leben zu können."

Carl von Clausewitz - Vom Kriege - 

Der Angriff; 4. Kapitel

 

Mit dem Legen einer Kugel ergibt sich genau dieses. Von der zunächst vorhandenen absoluten Stärke von sechs Kugeln wird eine "abgezweigt", um "das Land zu besetzen". Dem Gegner, der noch nicht gelegt hat, steht nach wie vor das volle Angriffspotenzial zur Verfügung. Verzichtet er allerdings darauf, "das Land zu besetzen", läuft er Gefahr, den Zweck seines Handelns zu verfehlen, also "das Land nicht zu erobern" - nicht zu punkten. 

Mit zunehmendem Kugelvorteil steht ein immer größeres Angriffspotenzial zur Verfügung, von dem ohne sonderliche Risiken Gebrauch gemacht werden kann. Eine gut platzierte Kugel kann so mehrfach angegriffen werden, was dem Bilden einer lokalen Übermacht entspricht . (Siehe hierzu auch: "Innere Linie")


Taktische Erwägung: Aus dem Gesagten könnte man leicht die folgende Maxime ableiten: "Lege dein Spiel so an, dass Du niemals mehr als eine Aktion benötigst, einen verlorenen Punkt „zurückzuholen“ - bedeute das nun schießen oder legen!" (so etwa rät es dieser englischsprachige Artikel: https://petanque.wordpress.com/2015/02/09/the-boule-advantage/). Freilich ist das nicht falsch und erhält desto mehr Relevanz, je erfahrener der Gegner ist. Den meisten wird jedoch bewusst sein, dass es Konstellationen gibt, in denen die Klugheit anderes gebietet. Warum etwa soll einem limitierten Team, das nur unzureichend schießt und im Grunde jede Kugel lieber legen möchte, nicht erst ein Hindernis in den Weg gelegt werden, um dann den notwendigen Schuss anzusetzen? Auf diese Weise wird ein günstiges „Bild“ geschaffen, was freilich mit einer Minderung des Kugelvorteils erkauft wird.

 

Dabei ist jedoch scharf zwischen zwei Fällen zu unterscheiden: Wird grundsätzlich so gespielt („Erst mal eine davor!), so ist das taktisch mangelhaft und führt dazu, dass Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden; bewusst eingesetzt, ist darin jedoch ein probates Mittel zu sehen, dem Gegner die Aufgabe zu stellen, die er am wenigsten zu lösen vermag.


Bilder:

Colt: von Xavi Barrera auf Pixabay 

Kirschen: von Alina Kuptsova auf Pixabay 

Kutter: von zephylwer0 auf Pixabay