36 Strategeme (27 – 36)


28. Auf das Dach locken und die Leiter wegziehen

Vordergründig soll der Gegner hier in eine Falle gelockt werden, aus der es keinen Ausweg mehr gibt. Thema des Strategems ist also die Einkesselung. Diese Situation selbst herbeizuführen, kann allerdings auch Vorteile für den Eingeschlossenen bedeuten, indem sie zum entschlossenen Kampf zwingt.

Da die Implikationen einer Umzingelung schon im 22. Strategem erörtert wurden, legen wir hier den Fokus auf den Vorteil, sich freiwillig in eine Falle zu begeben. Manchmal muss man im Pétanque erkennen, dass ein Team nicht richtig kämpft. Es könnte mehr leisten, tut es aber nicht. Niemand legt wertvolle Kugeln und dem Spiel fehlt somit die Basis. Alle Spieler fühlen sich zu "Höherem" berufen, wollen schießen und tricksen. Der Erfolg bleibt jedoch aus. Um das Spiel zu "erden", muss es auf seine Grundlage - das Legen - zurückgeführt werden. Das geschieht, indem sich die Mannschaft freiwillig alle weiteren Mittel versagt und sich rein auf das Legen guter Kugeln beschränkt. Dieses freiwillige "Abbrechen der Brücken" wird genauer beschrieben in: "Strategisches Legen".

 

 

29. Den verdorrten Baum mit Blüten schmücken

Stärker scheinen als sein, kann ebenso Vorteile bringen, wie das Vortäuschen von Schwäche. Wird Schwäche vorgetäuscht, soll der Gegner zu Aktionen motiviert werden. Das Vortäuschen von Stärke soll ihn hemmen.

Beim Boule kommt es nicht nur darauf an, entschlossen zu handeln, sondern diese Entschlossenheit auch auszustrahlen. Einem konzentriert spielenden Gegner, der Missgeschicke unbewegt wegsteckt, ist jederzeit die Wende zuzutrauen. So lastet immer ein gewisser Druck auf dem momentan erfolgreicheren Team. Es kämpft sich auch besser, wenn die Mitspieler sich entschlossen geben. Teams jedoch, die ihre Verzweiflung ob eintretender Misserfolge nicht verbergen können, die lamentieren und hadern, sind zu bedauern. Sie nehmen Druck von den Schultern ihrer Gegner, um ihn sich selbst aufzuladen. Sie stärken die Widersacher und schwächen die Mitstreiter. Auch wenn man fühlt, der Baum sei am verdorren, zeige man dem Gegner dennoch die lebendigen Blüten.

 

30. Tausche die Rolle des Gastes mit dem Gastgeber

Erfolg kann erarbeitet oder erschlichen werden. Der Kuckuck ist ein Meister darin. Durch das Ausbooten von Konkurrenten eignet man sich deren Ressourcen an. So wird die passive Rolle des Gastes mit der aktiven Rolle des Gastgebers getauscht.

Beim Boule kommt es zu diesem Verhalten, wenn ungeklärt bleibt, wer die Spielführung ausübt bzw. wie Entscheidungen getroffen werden sollen. Grundsätzlich kann sowohl eine einzelne Person als auch ein Kollektiv gemeinschaftlich das Spiel lenken (siehe: Führung im Pétanque, eine Verfassungsfrage). Ist jedoch ungeklärt, von wem die Richtung vorgegeben wird, versuchen einzelne Spieler in Machtkämpfen die Leitung an sich zu ziehen. Das ist natürlich kontraproduktiv, weil es vom eigentlichen Spiel ablenkt. Einem Spieler, dem man widerwillig folgt, wird, sobald dessen vorgeschlagene Aktionen misslingen, die Rechnung präsentiert. "Da hätten wir anders Spielen müssen!"; "Hätten wir gelegt, wäre es nicht so teuer geworden". Wer kennt sie nicht, diese "weisen" Einsichten im Nachhinein, die zwar das Team nicht voranbringen, aber einen Führungswechsel einleiten sollen. Mannschaften, die unter einer Diktatur leiden und darum nach Putschmöglichkeiten suchen, können keinen Erfolg haben. Die "Rolle des Gastes mit dem Gastgeber zu tauschen", mag gelingen, wird aber den Spielerfolg gefährden.

 

31. Die List der schönen Frau

Dieses Strategem beschäftigt sich mit den - sicher vielfältigen - Möglichkeiten, aus Attraktivität machtpolitischen Nutzen zu ziehen. Nicht zufällig ist im Schachspiel die Dame die Figur mit den meisten Möglichkeiten.

Man soll es mit dem strategischen Verhalten jedoch nicht übertreiben. Eine Boulepartie ist sicher kein James-Bond-Film. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, dass im Pétanque gewisse Rollenklischees existieren, deren Auswirkungen auf den Spielverlauf unbestreitbar sind. Es sei also empfohlen, Personen nicht aufgrund ihres Geschlechtes zu unterschätzen. Andererseits ist es eben das Unterschätztwerden, womit es sich gut leben lässt.

 

32. Die List der offenen Stadttore

Ein Bluff kann sehr hilfreich sein. Schwäche vortäuschen um Stärke zu verbergen ist ebenso eine sinnvolle Strategie, wie das gegenteilige Handeln. Manchmal ist das Täuschen aber aussichtslos, da das wahre Stärkeverhältnis offensichtlich ist. In einem solchen Fall - so empfiehlt es dieses Strategem - fährt man besser damit, gleich auf die eigene Unterlegenheit hinzuweisen, ja, diese gar hervorzuheben. Mag sein, es gibt dem Gegner doch zu denken und er vermutet hinter dem auffällig ehrlichen Verhalten eine Falle. Die Pointe besteht also darin, dem Gegner reinen Wein einzuschenken und darauf zu Vertrauen, er werde uns aus Prinzip kein einziges Wort glauben.

Mit der Umsetzung dieser List tut man sich im Pétanque etwas schwer, denn schließlich kann ein Gegner nicht endgültig vom Kampf abgehalten werden, was das eigentliche Ziel des hier besprochenen Kniffs wäre. Dennoch findet sich etwas Ähnliches: Gerät eine Mannschaft in starke Bedrängnis, beginnt zu verkrampfen und hadert mit sich selbst, so kann sie ihren misslichen Zustand bald nicht mehr verbergen. Es ist dann ein gutes Mittel, den Druck von dem Team zu nehmen, indem man sich gegenseitig einredet und laut hörbar versichert, da heute ohnehin alles misslinge, wolle man lediglich einen einzigen Punkt machen. So wird der Sieg verbal preisgegeben und Verkrampfungen können sich lösen. Der Gegner kann aber nie wissen, ob das wirklich ernst gemeint ist. Entweder fällt nun seine Konzentration ab, weil er meint, schon am Ziel zu sein oder er überzieht bei dem Versuch, auch diesen einen Punkt noch zu verwehren. Durch die vorgebliche Preisgabe der Siegesabsicht bringt man sich in eine ausgezeichnete Ausgangslage für sensationelle Comebacks.

 

Eine unschöne Variante dieser List ist die nachträgliche Verneinung einer Siegesabsicht. Nach Niederlagen neigen manche Spieler zu der Erklärung, nicht mit vollem Einsatz gespielt zu haben. Es sei heute um nichts gegangen oder man habe nur Spaß haben wollen. Damit wollen sie der Niederlage die Bitterkeit nehmen und sich selbst eine Demütigung ersparen. Mit diesem unsportlichen Akt entwerten sie jedoch im Nachhinein den ehrlich errungenen Sieg ihres Kontrahenten. Es sei einmal klar gesagt: Die einzige Möglichkeit zur Vermeidung von Demütigungen besteht in einem engagierten Kampf. Sind alle verfügbaren Mittel eingesetzt und die Niederlage dennoch eingetreten, so ist sie zweifellos ehrenhaft. (siehe: Niederlagen)

 

33. Die List Zwietracht zu säen und 34. Die List der Selbstverstümmelung

In beiden Strategemen geht es um den Einsatz von Doppelagenten. Falsche Informationen sollen gestreut werden. Ihr Überbringer fingiert den Seitenwechsel und versucht eine Glaubwürdigkeit zu erlangen, die ihm nicht zukommt.

Was im Krieg durchaus sinnvoll ist, findet im Pétanque kaum eine Entsprechung. Doppelagenten sind hier eher nicht zu finden. Eine Variante wäre gegeben, wenn man sich, mit scheinbar hehrer Absicht in die Kontroversen des Gegners einschaltet. Zeigt sich dieser Uneinig, können wir die Seite bestärken, die eine uns genehme Ansicht vertritt. Mit der Einnahme eines scheinbar objektiven Standpunktes, befindet man sich dann in der Rolle eines Doppelagenten. Da beide Listen von eher geringer Bedeutung sind, wollen wir uns sogleich dem nächsten Strategem zuwenden.

 

35. Die List der Verkettung

Dieses Strategem birgt keine weiteren Inhalte, sondern verweist auf den Nutzen, verschiedene Strategeme zu kombinieren. Belagert man beispielsweise "Wei" um "Zhao" zu retten (Strategem 2), besteht latent die Möglichkeit, den Kampf schließlich doch zu wagen, also Strategem 15 wahr werden zu lassen. Man hat dann den Tiger aus den Bergen gelockt. Der kreative Umgang mit den Handlungsoptionen, das Bedenken von Folgestrategien im Sinne eines Plan B und C, sind das Thema des fünfunddreißigsten Strategems.

So geschah es im Jahre 1717 als eine Armee unter Prinz Eugen eine Belagerung der starken türkischen Festung Belgrad unternahm und diese abschließen wollte, bevor ein überlegenes Entsatzheer anrückte. Die Festung hielt jedoch stand, die Belagerer wurden ihrerseits eingeschlossen. Der Plan B sah vor, den erwarteten Angriff der Türken hinter Feldbefestigungen abzuwehren. Dieser Angriff blieb jedoch aus. So wurde ein Plan C aktiviert, der einen nächtlichen Überraschungsangriff vorsah. Dieser endete aufgrund der brillianten Feldherrenkunst des Prinzen mit einem entscheidenden Sieg, der zudem die Kapitulation der Festung zur Folge hatte. Unschwer kann man erkennen, wie mehrere Strategeme ineinander greifen und trotz Anpassung der Taktik, das strategische Ziel letztlich erreicht wird.

Beim Pétanque muss man gewahr sein, dass eine Handlung immer mehrere Felder betrifft. Eine Aktion kann beispielsweise aufgrund des Kugelbildes richtig sein, während sie aufgrund der psychologischen Situation falsch ist. Zum Erreichen strategischer Ziele sind Umwege oft nicht zu vermeiden. (siehe: Strategie, das unbekannte Wesen)

 

36. Rückzug ist manchmal das Klügste

Das letzte der Strategeme gibt zu bedenken, einen Kampf nur dann zu wagen, wenn auch eine Aussicht auf Erfolg besteht. Ist diese Bedingung nicht erfüllt und ein Ausweichen möglich, so vermeide man den Kampf und warte auf bessere Zeiten. So bleibt - durch taktischen Rückzug - die Siegchance erhalten.

Was im Leben sicher klug ist, gilt im Spiel nur in abgeschwächter Weise. Da hier nichts zu verlieren ist, das wirklich von Belang wäre, gibt es eigentlich keinen Grund, den Kampf zu meiden (Angst, Risiko, Chance). Eine Ausnahme ist gegeben, wenn die Ursache der Schwäche im mentalen Bereich zu suchen ist und nicht in technischen Unzulänglichkeiten gründet. Manchmal ist ein Spieler einfach ausgebrannt und "überspielt". In einem solchen Zustand zeigt er wenig von seinem gewohnten Leistungsniveau. So ist er weder sich eine Freude noch seinen Mitspielern eine Bereicherung. Dann ist es sinnvoll, vom Spiele zu lassen, bis die Batterien wieder aufgeladen sind. Gleiches gilt für das Üben. In einem Zustand der Überbeanspruchung zu üben, nur weil ein wichtiges Ereignis naht, bringt wenig, es sei denn eine Verschlechterung. Wenn Konzentration und Motivation fehlen, ist ein Pausieren so lange weise, bis eine Wiederkehr dieser wichtigen Ressourcen neuen Schwung verleiht.

 

Umzingelung und die Wahrung des Scheins, Machtkämpfe, Ablenkungen und die verblüffende Wirkung der Ehrlichkeit, Doppelagenten, kreative Verkettungen und die Weisheit der Flucht waren Themen der letzten Strategeme. Bleibt einzig noch ein Fazit zu ziehen, was im nächsten Kapitel geschehen wird.

 

Thorsten

 


 

Dieser Artikel ist eine Fortsetzung von: Die 36 Strategeme und das Pétanque (Teil 3)

 

Dieser Artikel wird fortgesetzt in: 36 Strategeme und das Pétanque - Fazit


Bild von Jezriel Supang Ucho auf Pixabay

Zum Bild: Der Drache - Mischwesen und Symbol für China: https://de.wikipedia.org/wiki/Drache_(Mythologie)