Stegreifregeln


 

Mit dem Wort "Stegreif" benannte man in vergangenen Zeiten eine Seilschlinge, die in der Funktion eines Steigbügels Verwendung fand [1]. Ein Reiter, "aus dem Stegreif" entscheidend, musste hierzu nicht von seinem Rosse steigen, weshalb seine Stiefel in den Steigbügeln verblieben. Die Entscheidungen waren mangels genauer Anschauung freilich improvisiert.

 

Auch das Pétanque kennt Entscheidungen ohne tiefere Durchdringung der Materie. Hierzu müsste sich nämlich der Spieler entweder vom Kreis zum Cochonnet begeben – wo es zumeist des Interessanten eine ganze Fülle zu entdecken gäbe – oder vom hohen Ross seiner vorgefassten Anschauungen herabsteigen, um weniger das Allgemeine und mehr das Spezielle zur Grundlage seines Handelns zu machen. Sich mit solchem nicht zu belasten, werden Stegreifregeln bemüht, von denen einige nun näher betrachtet werden sollen.

 

"Eine in den Weg!":

Mit dem "ins Feld führen" dieser Forderung erklärt ein Schütze, erst aktiv werden zu können, wenn der Weg zum Cochonnet halbwegs versperrt ist. Damit wird die korrekte Beobachtung "Boule devant, boule d’argent." zum Prinzip erhoben. Es stimmt, dass eine Devantkugel mindestens Silber, wenn nicht Gold wert sein kann. Ebenso spricht einiges für die Richtigkeit der Einsicht, dass in vielen Mannschaften zwar jedes Mitglied in der Lage ist, einen Punkt zu legen, nicht jedoch einen sauberen Schuss zu setzen, weshalb die Anzahl der notwendigen Schüsse dann vernünftigerweise gering zu halten ist. Es ist jedoch nicht immer ausgemacht, dass es dem Gegner gelingen wird, Kugel um Kugel so zu positionieren, dass nur ein Schuss als Mittel bleibt. Scheitert man hingegen bei dem Versuch, die geforderte Devantkugel "zu bringen", so bleibt dem Schützen häufig nichts weiter übrig als seinerseits zu legen. Hinzu kommt, dass jede Kugel das Bild "enger" macht. Mit gewisser Wahrscheinlichkeit werden einige also dorthin gelangen, wo ein Schuss erschwert oder gar unmöglich gemacht wird. Ein sicherer Schütze sollte daher lieber früher als später zur Tat schreiten. Hierdurch werden aggressive Taktiken möglich, durch die auch andere Mannschaftsmitglieder noch zu Schüssen kommen. Freilich ist entscheidend, ob der Gegner für fähig gehalten wird, immer wieder nahezu perfekte Kugeln zu spielen. Ist das so, dann gehört tatsächlich "eine in den Weg". Andernfalls bedeutet die Forderung nach einem Hindernis ein zuweilen unnötiges Umschalten auf Defensive. Anstatt den Gegner unmittelbar zu bedrängen, wird zur Konsolidierung die Stellung ausgebaut. Dieses kann sich ebenso als richtig erweisen, wie es falsch sein kann – es kann dem Gegner die rettende Atempause verschaffen oder uns davor bewahren, in den Abgrund zu stolpern.

Vielen Schützen erleichtert die Devantkugel ihr schwieriges Geschäft, indem sie als psychologische Stärkung fungiert. Wenn das so ist, sollte dem natürlich Rechnung getragen werden. Ebenso sollte jedoch die Einsicht in diesen Zusammenhang dem Schützen Anlass sein, sich solcher "Krücken" zu entledigen.

 

"Zwei besser!":

Dieser Ausspruch folgt der Erkenntnis, dass die eigene Kugel gegenwärtig in der Rangliste nur Platz drei beanspruchen darf. Endete die Aufnahme just hier, erhielte der Gegner mithin zwei Punkte. Daraus leiten nun viele die Gewissheit ab, vor Aktivierung des Schützen müsse zumindest eine Kugel an Position zwei gebracht werden. Das mag auch gelegentlich so sein, ist aber immer eine Überlegung wert. Solange Kugelvorteil besteht, spricht nichts dagegen, die Situation durch Schüsse zu bereinigen. Hätte der Gegner zwei perfekte Kugeln gespielt, die jeweils sofort durch Schüsse beseitigt worden wären, so wäre der Schütze auch zweimal in Folge in Aktion getreten. Wo also ist der Unterschied? Ebenso stellt sich bereits nach dem ersten Treffer das durch Legen angestrebte Ergebnis ein, denn die eigene Kugel belegt nun Rang zwei. Hinzu kommt, dass durch den Schuss das Cochonnet mitgerissen werden kann, wodurch des Gegners zweite Kugel ebenfalls entwertet würde. Weiterhin kann dessen "Zweite" auch durch einen Konter abgeräumt werden. Natürlich wird "Zwei besser!" gemäß der Gewohnheit angeführt, nur zu schießen, wenn eine eigene Kugel auch verteidigt werden kann. Dabei wird jedoch leicht übersehen, dass erfolgreiche Schüsse in jedem Fall die potenzielle Beute des Opponenten reduzieren. Schließlich ist hier noch die Möglichkeit eines Carreau anzuführen, durch welchen sich die Situation sofort vollkommen verändert. Das alles sind Gründe, "Zwei besser!" nie als Synonym für "Wir müssen Legen!" aufzufassen.

 

"Immer auf die Eins!":

Der Ratschlag, beim Legen immer die Nähe einer bereits gut positionierten gegnerischen Kugel zu suchen, ist ambivalent. Zwar ist es zutreffend, dass ein so erzielter Punkt den gegnerischen Tireur vor eine schwierige Aufgabe stellt, wird jedoch ein Punkt nicht erzielt, wandert der schwarze Peter zum eigenen Team, das nun vermutlich weiter legen muss. Natürlich beinhaltet das Legen in Richtung der fremden Punktkugel auch die Möglichkeit, diese durch Anspielen zu verschlechtern. Die daraus folgende Nähe beider Kugeln bedeutet aber immer eine defensive Ausrichtung des Spiels. Ein erspielter Kugelvorteil ist dann immer nur in Punkte umzumünzen, indem gut positionierte eigene Kugeln gefährdet werden. Bei der Frage, ob die "Eins" zu suchen oder zu meiden sei, sollte daher stets Klarheit über die grundsätzliche Ausrichtung der Aufnahme bestehen. Häufig kommt es nämlich zu einem Missverständnis zwischen Tireur und Pointeur, wenn dieser "legen" im Sinne von "Eine in den Weg!" fordert um danach mit besserer Aussicht auf Erfolg angreifen zu können, und jener, ein Umschalten auf Defensive wähnend, nun die "Eins" als Ziel auffasst.

 

"Mit der Letzten schießt man nicht!"

Diese "Regel" ist bereits Gegenstand eines eigenen Artikels, weshalb sie hier nur knapp behandelt wird. Grundsätzlich wird vor einem finalen Schuss dann zurückgeschreckt, wenn die Auswirkungen unabsehbar sind, das Kugelbild unplanbar verändert würde und die Gefahr droht, dem Gegner durch ein Unglück viele Punkte zu bescheren. Diese Gefahr ist jedoch nicht zwangsläufig gegeben. Oft ist das Risiko überschaubar. Zudem kann so geschossen werden, dass Katastrophen weitgehend auszuschließen sind (Billigende Inkaufnahme). Mag es auch gelegentlich weise sein, nicht dann alles zu riskieren, wenn Fehler nicht mehr ausgebügelt werden können, so ist es sicher falsch, daraus eine strikte Regel zu stricken, bedeutet es doch den freiwilligen Verzicht auf viele Punkte, ohne die häufig ein Sieg nicht zu erringen ist. 

 

Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Stegreifregeln - Taktik / Boulelexikon
Führen häufig nur ein Stück des Weges, die Stegreifregeln

 

 

 

 

Die aufgezeigten Unzulänglichkeiten hätten zweifellos zu einer Kümmerexistenz der Stegreifregeln geführt, wohnte ihnen nicht noch anderer Nutzen inne:

 

Da wäre zunächst die Kommunikation. Stegreifregeln fungieren als Leitbilder die – von jedem verstehbar und leicht zu transportieren – es ermöglichen, die Mannschaft auf ein einheitliches Ziel einzuschwören. Jemand wirft die "Regel" als Formel in die Runde, die Mitspieler stimmen zu und schon ziehen alle an einem Strang. Auch Subtileres ist freilich möglich. Der erfahrene Spieler, seinem Schützen den schwierigen Angriff nicht zutrauend, beruft sich auf "Zwei besser!", wodurch dessen Ego geschont und gleichsam "durch die Blume" zum Ausdruck gebracht wird, wohin die Reise gehen soll.

 

Auch zur Festigung der Psyche leisten Stegreifregeln ihren Dienst. Der Spieler – in seinem Urteil von den Gefährten häufig beargwöhnt – erfährt durch sie zusätzliche Legitimation. Gleich ob es gilt, Entschluss oder Misslingen vor sich selbst oder der Mannschaft zu rechtfertigen – kontert man das verheerende "Da hätten wir anders spielen sollen!" mit einer der scheinbar unumstößlichen Regeln, ist die Debatte meist beendet. Sich selbst zu legitimieren, den Zweifel vor der Aktion restlos zu tilgen, kann sich als entscheidend für deren Gelingen erweisen.

 

So ist denn das einleitende Bild erstaunlich treffend: Der Anführer einer Reiterschar, im Getümmel weder in der Lage, seine Aktionen sorgfältig zu planen, noch sie jedem der Mitstreiter en détail zu erklären, vertraut der Kraft seiner Intuition und kommuniziert Entschlüsse vermittels allseits vertrauter Hornsignale. Mag auch ungewiss sein, ob der gewählte Weg das Optimum trifft, solange alles in eine Richtung galoppiert und die Durchschlagskraft erhalten bleibt, ist meist nicht aller Tage Abend.

 

Thorsten


[1] : Zum Wikipediaartikel: https://de.wikipedia.org/wiki/Stegreif

 

Bild: Aufgegebene Bahnstrecke oberhalb der sog. "Echobrücke" in Braunschweig


Ergänzung 1: Auch wenn an sogenannten Stegreifregeln hier Kritik geübt wird, so soll doch die Notwendigkeit, in einem Spiel schnell zu handeln, keinesfalls in Frage gestellt werden. Vielmehr hängt von dem Vermögen, in Kürze zu besonnenen und umsichtigen Entscheidungen zu gelangen, in einer Partie vieles ab. Die Qualität des Augenmaßes kann über Sieg oder Niederlage entscheiden.

So schrieb schon der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz:

 

„Weil die Gefechte im Kriege das sind, was zuerst und am meisten den Blick auf sich gezogen hat, in den Gefechten Zeit und Raum wichtige Elemente sind und es in jener Periode noch mehr waren, so die Reiterei mit ihren rapiden Entscheidungen die Hauptsache war, so ist der Begriff eines schnellen und treffenden Entschlusses zuerst aus der Schätzung jener beiden Dinge hervorgetreten und hat daher einen Ausdruck zur Bezeichnung bekommen, der auf richtiges Augenmaß geht.“

(Carl von Clausewitz - Vom Kriege, 3. Kapitel)

 

Nur bedarf es dabei eben nicht der unkritischen Anwendung vorgefasster Regeln, sondern vielmehr, wie es Max Weber einmal formuliert hat, „.. der Fähigkeit, die Realitäten mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen..“. (Max Weber – Aus seinem vielzitierten Vortrag: „Politik als Beruf, München 1919)

 

Durch ständigen Abgleich von abstrakten Ideen mit der Realität - in diesem Falle also den hier behandelten Regeln, mit den vorherrschenden Umständen - gewinnt unser Augenmaß erst die nötige Schärfe. So ergeht es etwa dem Wanderer, für den eine Landkarte erst dann ihren Nutzen entfaltet, wenn er sich mit ihren Elementen soweit vertraut gemacht hat, dass er sie in der Landschaft wiedererkennt und somit, aus dem Zusammentreffen von abstraktem Hilfsmittel und konkreter Anschauung ein inneres Bild gewinnt, das ihm hinfort als sichere Basis der zu treffenden Entscheidungen dient. Wir brauchen die einfachen Regeln, um zu schnellen Entscheidungen zu kommen und bedürfen ihrer steten Überprüfung, um in unserem Denken nicht zu erstarren.

 

(Am 11.7.2021 beschäftigte sich ein Essay im Deutschlandfunk mit dem Begriff "Augenmaß": "Politik, Militär, Ästetik - Über die Entscheidung nach Augenmaß" (https://www.deutschlandfunk.de/politik-militaer-aesthetik-ueber-die-entscheidung-nach.1184.de.html?dram:article_id=500107) Dieses diente als Anregung für die hier eingefügte Ergänzung. Der Begriff "Augenmaß" beinhaltet demnach zwei Bedeutungen: "Die Messung und Schätzung nur mit dem Auge, aber auch die Fähigkeit, in angemessener Weise zu handeln, wenn es darum geht, besonnene und umsichtige Entscheidungen zu treffen."

Stehen in diesem Aufsatz die Entscheidungen im Mittelpunkt, so befasst sich der Text "Sehen" (https://boule-braunschweig.jimdofree.com/boulelexikon/hintergrund/sehen/) mit den mehr physischen Möglichkeiten, das Messen und Schätzen vermittels der Augen zu verbessern. 


Ergänzung 2: Die hier aufscheinende Nebenfunktion der Stegreifregeln, nämlich als Chiffren für komplexere Zusammenhänge, die eine effiziente Kommunikation ermöglichen, ist eine abschließende Überlegung wert. Die Vertrautheit der Spieler untereinander – das Eingespieltsein – zeigt sich auch im gemeinsamen Entwickeln und gegenseitigen Verstehen solcher Chiffren, die freilich auch Gegenstände zum Inhalt haben können – und sollten – die von den Stegreifregeln nicht erfasst werden.