Pax oder Mars?

Die Farbe des vierten Planeten brachte die Menschen dazu, die "rote Kugel" mit dem blutigen Kriegshandwerk zu assoziiren
Die Farbe des vierten Planeten brachte die Menschen dazu, die "rote Kugel" mit dem blutigen Kriegshandwerk zu assoziiren

Die Webseiten vieler Boulevereine ziert ein Zitat, das, Honoré de Balzac zugeschrieben, behauptet, Boulespieler seien: "...sowohl die friedliebensten als auch die verrücktesten Menschen der Welt". Wird man auch Letzterem nicht ernsthaft widersprechen wollen, so legt sich anhand immer wieder beobachtbarer, eruptiver Zwistigkeiten, ein deutlicher Schatten des Zweifels auf diese scheinbare Gewissheit. Bedenkt man zudem, dass die Mehrzahl der von Menschen ersonnenen Spiele ihren Ursprung dem Kriege verdankt [1], ist vollends fraglich, ob denn die Boulespieler tatsächlich der Pax huldigen, also der altrömischen Friedensgöttin, oder ob nicht, sobald die Kugeln zu rollen beginnen, Mars die Stunde regiert, der im antiken Rom ungleich bedeutendere Gott des Krieges [2].

 

Der Homo Sapiens ist seit jeh ein gar kriegerischer Gesell, der früh sein Talent zum Werfen gefährlicher Geschosse entwickelte und sich nie scheute, diese gen seinesgleichen zu schleudern [3]. So nähme es denn Wunder, wenn Wurfspiele – wie das Pétanque – dieses nicht irgendwie widerspiegelten; wenn sich Boule nicht als kriegerisches Spiel deuten ließe. Suchen wir doch einmal in der vordergründig wenig martialischen "Kugelei" nach Elementen, die der Sphäre des Mars zuzuordnen wären:


Barbarossa - Kaiser, Heerführer und Sagengestalt des Mittelalters. Seine Zeit bietet Analogien, die das Wesen des Spiels illustrieren
Barbarossa - Kaiser, Heerführer und Sagengestalt des Mittelalters. Seine Zeit bietet Analogien, die das Wesen des Spiels illustrieren

Das Cochonnet: Eigentlich nur ein Holzkügelchen auf weiter Flur, ist es im Spiel ein Symbol für einen Ort besonderer Bedeutung. Je stärker eine Mannschaft davon Besitz ergreift, umso mehr Wasser wird auf ihre Mühlen geleitet, desto näher kommt sie dem Sieg. Je besser es ihr gelingt, den Gegner vom Cochonnet fernzuhalten, desto schädlicher wird es für dessen Spielerfolg sein.

Wir können uns das Schweinchen also mit etwas Fantasie auch als Ressource denken, also als eine Rohstoffquelle oder eine wichtige Kreuzung von Handelswegen, eben als einen Ort von strategischer Bedeutung, den unter Kontrolle zu behalten, von hoher Wichtigkeit ist.

 

Die liegende Kugel: Die Ausübung dieser Kontrolle geschieht im Spiel durch liegende Kugeln. Je näher sich diese am Cochonnet befinden, desto stärker ist die Gewalt, die sie über den strategischen Punkt ausüben, umso schwerer gelingt es dem Gegner, sich noch näher zu platzieren. So betrachtet, erscheint die liegende Kugel wie eine Burg; eine Festung, die einen wichtigen Ort beherrscht und den Einfluss konkurrierender Mächte abwehrt.

 

Die angreifende Kugel: Dieses Hindernis zu beseitigen, die Burg zu schleifen, dienen im Spiel die angreifenden Kugeln, die als Schüsse bezeichnet, "den Gegner" vom Spielfeld entfernen und so Raum schaffen, "sich selbst" günstig zu platzieren. In selteneren Fällen gelingt es gar, die Kugeln einfach auszutauschen, sich also mit einem Carreau direkt an die Stelle des Gegners zu setzen. Dieses Manöver ist dann, um im Bild zu bleiben, wie die Eroberung einer gegnerischen Festung, als zöge man unmittelbaren Nutzen aus deren günstiger Lage. 

 

Kugelvorteil: Die günstige Lage einer Kugel ist nun das eine, die Macht, der sie potenziell gegenübersteht, ist das andere. Eine Kugel, so gut sie auch positioniert sein mag, liegt isoliert am Boden – die sie besitzende Mannschaft hat sich wortwörtlich festgelegt. Man kann sie erfolgreich beseitigen, man kann, in Reaktion darauf, wiederum eine Kugel ähnlich günstig platzieren. Je häufiger jedoch Angriffe erfolgen können und je geringer die Möglichkeiten der Reaktion darauf ist, desto größer werden die Erfolgsaussichten dieser Angriffe sein. Noch spielbare Kugeln wirken daher wie ein Heer, eine Armee die, flexibel einsetzbar, eine lokale Übermacht dort herbeizuführen vermag, wo des Gegners Einfluss unbedingt beseitigt werden muss. [4]

 

Wohin führen nun diese vordergründig etwas befremdlichen Erwägungen?

Zum Kern der Sache! Pétanque ist nicht nur eine Geschicklichkeitsübung, es ist nicht allein ein Wettkampf in geschicktem Handeln, es ist vielmehr ein Kampf, bei dem es darum geht, den Gegner von einer wichtigen Ressource abzuschneiden, ihm zu schaden und ihn, soweit es Turniere anbelangt, vollkommen auszuschalten. Spiele sind Realitätsmodelle und die beim Pétanque abgebildete Realität ist eine kriegerische.

 

Dieser Gedanke, so unschön die damit verbundenen Konnotationen auch sein mögen, erschließt ein weites Feld, von dem sich Expertise ernten lässt, weil es schon seit Urzeiten "beackert" wird [5]. Das Boulelexikon bedient sich daher, bei aller durchaus gebotenen Zurückhaltung, in verschiedenen Artikeln der Gedanken Sunzis [6], es verwendet das Hagakure [7], das Buch der fünf Ringe [8], die 36 Strategeme, es beinhaltet Erkenntnisse von Clausewitz [9] und betrachtet immer wieder historische Begebenheiten mit militärischem Hintergrund, es unterscheidet Strategie und Taktik und entwickelt beides in jeweils eigenen Kapiteln. 

 

Mag das Boulespiel auch der Sphäre des Mars angehören, so ist es eben vor allem ein Spiel. Es fasziniert, weil es vieles von dem enthält, das seit Anbeginn den Menschen ausmacht, das Böse wie das Gute. Es erlaubt ihm, dieses – sein Wesen – in der Konsequenz friedlich, spielerisch auszuleben.

Seien wir also milde mit uns selbst, wann immer einmal wieder die Emotionen aufwallen, wann immer wir auch künftig den Atavismen erliegen – im Spiel dürfen wir es, und schließlich: Es ist unsere Art.

 

Thorsten


[1] Als bekanntestes Beispiel ist hier das Schachspiel zu nennen. Die englischsprachige Seite boardgamegeek.com listet eine unglaubliche Zahl an Brettspielen auf. Deren überwiegende Mehrzahl hat letztlich bewaffnete Konflikte zum Thema, mal abstrakter gefasst, mal sehr konkret.

[2] Im antiken Rom existierte ein dem Gotte Janus geweihter Tempel, dessen Tore nur dann geschlossen wurden, wenn Frieden herrschte. Es ist bezeichnend, dass dieses so selten der Fall war, dass sich Kaiser Augustus rühmen konnte, binnen seiner langen Herrschaftszeit dieses dreimal bewirkt zu haben. Es gelang dann auch nur dreien seiner Nachfolger, ebenfalls eine Schließung der heiligen Tore zu erreichen. Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Janustempel_(Rom)

[4] Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Ende des Kreuzfahrerstaates im Jahre 1187 n. Chr.: Auf dem Schlachtfeld bei den "Hörnern von Hattin" verloren die Kreuzfahrer im Konflikt mit Sultan Saladin die Masse ihrer mobil einsetzbaren Kräfte. In der Folge waren befestigte Orte - sämtlich - isolierte Inseln, die im Falle einer Belagerung nicht auf Entsatz hoffen durften und überwiegend entsprechend rasch in die Hände des Gegners übergingen. Mochten zu ihnen auch einige der mächtigsten Burgen ihrer Zeit zählen, isoliert – und ohne eine Streitmacht im Hintergrund –  waren sie alle verloren. 

Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht_bei_Hattin 

[5] Kriegerische Handlungen lassen sich für die vergangenen 7000 Jahre sicher nachweisen, dürften aber bereits in Epochen stattgefunden haben, die weit darüber hinausreichen und im Dunkel der Geschichte liegen. (Siehe: Feldmarschall Montgommery of Alamein / Kriegsgeschichte – Weltgeschichte der Schlachten und Kriegszüge / Bernard & Graefe 1972


Anmerkung: Die hier aufgezeigte Analogie trägt erstaunlich weit: In seinem Buch "Die neuen Kriege" beschreibt Herfried Münkler, wie die Entwicklung der Waffentechnik im ausgehenden Mittelalter dazu führte, dass größere Staatswesen sich festigen konnten – dass der Nationalstaat heutiger Prägung entstand. Indem nämlich die Artillerie einerseits so effektiv wurde, dass es rebellierenden Adeligen unmöglich war, sich in Burgen so lange zu verschanzen, bis dem sie belagernden König das Geld ausging; diese Geschütze aber andererseits so teuer waren, dass eben nur Könige die nötigen Mittel aufzubringen vermochten. 

 

Ähnliches erfuhr jüngst der Autor dieses Artikels, als er bei einem Turnier von einem amtierenden Deutschen Meister deutlich die Grenzen aufgezeigt bekam. Bei drei immerhin ganz ansehnlich gelegten Kugeln, die dem Meister den Weg zum Sieg versperrten,  gelang es diesem, durch drei Carreaux einen "Sechser" herauszuspielen und so zu verdeutlichen, wie sinnlos es ist, sich zu verschanzen, wenn in des Gegners Hand Fernwirkung und Präzision sich zum Maximum vereinen. Meisterliches Schießen erfordert äußerste Disziplin. Einerseits beim Schützen, durch den immensen Aufwand, der zum Erwerb dieser Kunst betrieben werden muss. Andererseits bei seinem Gegner, der gezwungen ist, jeden Zug sorgfältigst zu erwägen. So zwingt "besseres Schießen" hie wie dort, zu komplexeren Strukturen – zu leistungsfähigeren Staatswesen und Mannschaften. Der "Frondeur" findet keinen Unterschlupf, wo der König sein Banner entrollt. (Siehe: Herfried Münkler / "Die neuen Kriege" / Rowolt 2014)