Ein ebenso nützlicher wie pragmatischer Ratschlag. In einem Buch aus dem alten Japan, dem "HAGAKURE"[2], findet sich eine Entsprechung:
Sei kein vollendeter Techniker!
„Ein Mann, der eine Kunst vervollkommnet hat, ist ein Techniker, kein Samurai. Ziele darauf ab, „irgendein Samurai“ genannt zu werden. Denke daran, dass
Fertigkeiten einem Mann nur helfen können, seine Pflicht zu erfüllen, wenn er verstanden hat, dass ein besonderes Talent ein Abschreckungsmittel für das Dasein eines echten Samurai
darstellt.“
Es soll in diesem Artikel keinesfalls die Bedeutung technischen Könnens geschmälert werden. Gute Techniker laufen jedoch immer Gefahr, ihrer Kunst zu "verfallen"; das Erlernte allein um seiner
selbst Willen anzuwenden. Ihr Verhalten ist nützlich, was die Mehrung der eigenen Fähigkeiten anbelangt, es ist aber oft nicht dienlich, in Bezug auf das
Spielergebnis und das Wohl der Mannschaft.
Beim Fußball zeigt sich dieses Phänomen, wenn Dribbelkünstler es versäumen, den Ball im entscheidenden Moment an den einschussbereiten Mitspieler abzugeben und so ihrer Mannschaft einen
schlechten Dienst leisten.
Was unterscheidet denn den "Samurai" vom Techniker?
Der Samurai ist ein Krieger, den ein absolutes Treueverhältnis an seinen Kriegsherrn bindet. Seine Aufgabe wird er bedingungslos ausführen, und koste es sein Leben - eine Besonderheit, die sich
aus den soziokulturellen Umständen erklärt, die schließlich das Shogunat im alten Japan hervorbrachten. Selbstverständlich strebt ein solcher Mensch im Kampf allein den Erfolg seines Herrn an und
leistet sich nicht den Luxus, eine verfeinerte Kunst um ihrer selbst Willen zu präsentieren. Davor bewahrt ihn sein Ethos, geprägt durch das spezielle Treueverhältnis. Gleichwohl
pflegt er diese Kunst und vermittelt sie auch seinen Mitstreitern, alles, um dem eigenen Hause zu nützen.
Analog ist ein Boulespieler seiner Mannschaft verpflichtet, die von ihm erwarten darf, sein Bestes für den gemeinsamen Sieg zu geben. Ein guter Techniker, der seine Kunst um des
gemeinsamen Erfolges Willen hintanstellt, bringt seiner Mannschaft ein Opfer. Er zeigt damit jene Demut, die ihn zum Kämpfer macht und die gemeinschaftliches Handeln erst ermöglicht. Der Kampf hat eine Logik, die
sich klar von jener der Übung unterscheidet. Erfolgreich ist, wem es gelingt, sich darauf einzulassen.
Der Kampf ist heute, jetzt und hier!
Sein Ergebnis zeigt sich sehr bald und nicht erst irgendwann.
Viele gute Techniker sind „Trainingsweltmeister“[3], die im Spiel unterliegen, weil sie sich nicht auf die Bedingungen des Kampfes einlassen. Verliebt in technische Meisterschaft
sind sie blind für effektive Vorgehensweisen, die vielleicht nicht "der reinen Lehre" entsprechen. Dünkelhaft halten sie daran fest, auch wenn der Erfolg anderes gebietet. Lieber gehen sie
unter, als den einmal beschrittenen Weg zu verlassen - ein Sterben in Schönheit; Handwerk, das sich selber Zweck ist.
So schwer es auch sein mag: Wenn Sonne blendet, Regen nässt, Dämmerung sinkt, Geräusch und Bewegung irritieren, der Boden nur Steine birgt, Konzentration und Kräfte schwinden, dann gilt
es gemeinsam zu kämpfen - gerade dann!
Der Kämpfer verwendet eine Technik zum Zwecke des Sieges,
nicht um ihrer selbst willen. Verfehlt sie diesen Zweck, so lässt er von ihr ab.
Der Kämpfer verfeinert sein Können nicht, um sich zu erhöhen,
sondern um anderen nützlich zu sein. Sein Können bringt er zur Anwendung,
um der Mannschaft zu dienen, nicht um zu glänzen.
Thorsten
[1] CARREAU! BOULE SPIELEN & GEWINNEN BEIM PETANQUE
Verlag: pcr werbeagentur; Auflage: 1. Aufl. (15. November 2011)
ISBN-10: 3981472209
ISBN-13: 978-3981472202
[2] Das Hagakure ist auch als „Kodex der Samurai“ bekannt und wurde zwischen 1710 und 1716 in Japan
verfasst. Der Autor beschäftigt sich intensiv und in philosophischer Weise mit dem Wesen des Kampfes. (Es ist nicht möglich, an dieser Stelle auf die Hintergründe des Werkes einzugehen. Wer sich
näher damit befassen möchte findet hier einen Einstieg : http://de.wikipedia.org/wiki/Hagakure )
Anmerkung: Vor einigen Tagen lief bei ARTE einmal wieder der Film „Ghost Dog – Der Weg des Samurai“. Darin lebt der
Protagonist, wunderbar verkörpert von Forest Whitaker, als Auftragskiller der Mafia nach einem archaischen Ehrenkodex aus dem alten Japan. Wer seine Werte lebt, kann
auch in der Niederlage letztlich nicht scheitern, das zeigt der Film in berührender Weise.
Mich erinnert das Filmgeschehen - immer wieder wenn ich „Ghost Dog“ sehe - daran, wie wichtig es ist, das Spiel irgendwo zu verankern, es an den Werten festzumachen, die man
aus tiefster Seele anstrebt. Sucht man nach technischer Exzellenz; nach Turniererfolgen; nach Gemeinschaft oder lebt man einen tadellosen
Sportsgeist? All diese Werte - und sicher noch einige mehr - kann man anstreben, nur sind sie häufig nicht allesamt gleichermaßen erreichbar. Man muss mit sich selbst darüber
ins Reine kommen, um dann befreit und ohne Reue aufspielen zu können. Wie die Filmfigur muss man seinen Frieden mit sich selbst machen, um den Fährnissen des Lebens gelassen zu begegnen.
Ich habe die Ausstrahlung des Films jüngst (2023) zum Anlass genommen, den Artikel „Techniker“ zu überarbeiten,
denn beide, Film und Aufsatz, schöpfen aus derselben Quelle. Es ist zudem einer der ältesten Aufsätze im Boulelexikon und als solcher hat er schon etliche
Wandlungen erfahren. Zudem ist es ein Artikel, zu dem mich im Laufe der Jahre einige Zuschriften erreicht haben. So habe ich ihn also sprachlich ein wenig überarbeitet und präzisiert sowie
ihm einige Ergänzungen beigegeben. Mehr und mehr sehe ich, dass die darin aufgeworfene Frage keiner wirklichen Lösung zugeführt werden kann. Sie hängt von den persönlichen Werten ab und
beantwortet sich möglicherweise auch in den unterschiedlichen Phasen einer Spielerkarriere jeweils anders. Thorsten
[3] Das Phänomen des „Trainingsweltmeisters“ beruht letztlich darauf, dass unter idealtypischen Bedingungen geübt wird, die im Kampf nie vorzufinden sind. Man glaubt sich in
Besitz einer gewissen Stärke, übersehend, dass diese an unrealistische Voraussetzungen geknüpft ist. Solcherart getäuscht, offenbart sich im eigentlichen Kampf sofort die eigene Unzulänglichkeit,
die Selbstsicherheit geht verloren. Mit dieser schwindet
aber das Wesentliche, denn ohne sie kann keine Technik sauber ausgeführt werden.
Abschließend ein Beispiel: Beim Solotraining oder beim Einspielen übt man gern Schüsse in schneller Folge, meist noch in der eigenen Lieblingsentfernung. Natürlich stellen
sich schnell Treffer zuhauf ein. Im Spiel hat man dann zwischen den Schüssen recht lange Pausen. Mal spielt man sehr weite Entfernungen, dann wieder recht kurze Distanzen. Diese Bedingungen gilt
es, zu trainieren, nicht, sich am Scheinerfolg einfacher Übungen zu berauschen!
Ergänzung I: Das in diesem Aufsatz Gesagte behandelt eine der großen Antinomien im Pétanque: Soll man alles für den Sieg in der konkreten Partie tun oder soll man alle Bemühungen der eigenen Entwicklung widmen?
Dann nämlich werden Partien zu Trainingsspielen, deren Ausgang von geringer Bedeutung ist. Man kann das so sehen und es erhält auch die Gemütsruhe, es so zu sehen. "Wenn ich auch heute
scheitere, so werde ich doch morgen mich verbessert finden." An vielen Stellen im Boulelexikon wird der Rat gegeben, mentale Stärke aus eben diesem Gedanken zu schöpfen.
Letztlich hängt es von der persönlichen Zielsetzung ab, und man sollte als Spieler danach streben, mit sich selbst irgendwann über diese Frage ins Reine zu kommen. Andernfalls
hat man eine Verabredung mit dem Unglücklichsein, wird also nach verlorenen Partien den Chancen nachtrauern, die man nicht ergriffen hat oder wird es irgendwann bedauern, nicht das technische
Niveau erreicht zu haben, das vielleicht möglich gewesen wäre. Vermittelnd könnte man sagen: Willst Du heute gewinnen, dann spiel nicht wie ein Techniker!
Willst Du künftig erfolgreich sein, dann sei heute bereit, Lehrgeld zu zahlen!
Ebenso verbirgt sich in der Frage der "Gemeinschaftsdienlichkeit" eine Antinomie: Denn leistet der, der sein Können auch auf Kosten vieler, nicht mit letztem Ernst geführter Spiele, auf die
Spitze treibt, den anderen nicht dadurch einen Dienst, dass er eben dieses Können hinfort anzuwenden vermag und allen somit ein Gegner ist, an dem sie zu wachsen vermögen?
Ergänzung II:
Ein vorzüglicher Spieler mit jahrzehntelanger Erfahrung erzählt gern die folgende Geschichte:
„ Anlässlich eines Frankreichurlaubes nahmen ein guter Freund und ich an einem Turnier teil, bei dem wir es mit zwei älteren Herren zu tun bekamen, beide in ihren siebzigern. Der Boden war
recht sandig und unsere Gegner, seiner Eigenschaften genau kundig, machten den besten Gebrauch davon. Hemmungslos raffelten* sie alles weg, was wir ihnen hinlegten. Häufig blieben gar ihre
Schusskugeln als Carreaux liegen. So sahen wir unsere Felle davonschwimmen und schworen uns, sobald wir nur einmal das Cochonnet bekämen, es in die einzige Zone zu werfen, in der Steine das
Raffeln unterbinden würden. Endlich, bei bereits sehr hohem Rückstand, geschah es, dass wir tatsächlich den Punkt behielten. Nun würden wir den „Rafflern“ zeigen, wie echtes Pétanque in rauem
Gelände gespielt wird. Schon flog das bunte Kügelchen ins grobe Gestein, doch oh Schreck: Die Greise gaben sich keine Blöße und zeigten sich auch dieser Situation gewachsen. Nun schossen sie
perfekt auf Eisen. Das Spiel endete 1 : 13.“
* "Raffeln": Methode des Schießens, bei der die Schusskugel relativ weit vor ihrem Ziel Bodenberührung hat, worauf sie es rollend erreicht. Lässt der Boden es zu, sind Treffer auf diese Weise
leicht zu erzielen, muss doch der Spieler lediglich gerade werfen und nicht, wie es beim Eisenschuss der Fall ist, auch noch die Zielentfernung exakt wählen. Daher wird das Raffeln vielfach als
leicht Anrüchig angesehen. Dazu trägt der Umstand bei, dass beim Raffeln relativ häufig weitere Kugeln oder das Cochonnet involviert werden, weshalb das Kugelbild nach Raffelschüssen eher
ein Zufallsprodukt ist, was viele Spieler keineswegs schätzen.
Ergänzung III: Ein Mitspieler berichtete von einem Gespräch mit französischen und belgischen Pétanquespielern. Diese gaben nach dem Spiel den freundschaftlichen Hinweis:
"Bei euch Deutschen wird zu wenig geübt. Ihr spielt häufig nur das, was ihr ohnehin schon könnt." Gewiss, verbessern kann man sich nur, wenn man das versucht, was man nicht gut kann: Der
Leger wird auch durch noch so häufiges legen kein guter Schütze werden; der Raffelschütze nie den "Eisenschuss" zur Reife bringen. Ein sehr wichtiger Hinweis, also. Und doch wird
es immer die Spiele geben, die gewonnen werden müssen. Hier wird natürlich der beste Leger legen und der Meistertireur schießen. Wenn dann, in einer solchen Partie, drei Gegnerkugeln eng am
Schwein liegen, der Gegner leergespielt ist, und wir noch drei Kugeln haben, werden wir dann per Eisenschuss, jede der Kugeln sauber und einzeln zu entfernen versuchen, oder werden wir per
Flachschuss, also technisch viel weniger anspruchsvoll, die ganze Ballung auseinandersprengen und ein Maximum aus unserem Kugelvorteil machen, den wir uns ja schließlich erspielt haben?
Das ist eben die Gretchenfrage im Pétanque. Ich selbst neige letzterem zu, weil es eben doch ein Spiel ist, das gewonnen werden will. Man muss alle Techniken
beherrschen und auch von allen Gebrauch machen, wenn es die Situation erfordert.
Bild: Zweifellos einer der ältesten Bäume im Land: Die "tausendjährige" Linde von Upstedt.