36 Strategeme (1 – 9)


"Immer listig sein, deutet auf einen kleinlichen Geist und fast stets kommt es vor, daß der, welcher sich dadurch auf der einen Seite deckt, auf der anderen sich eine Blöße gibt."

 

François de La Rochefoucauld,

franz. Offizier, Diplomat und Schriftsteller


Boule - Petanque / Tipps & Tricks

In China existiert eine Sammlung von Vorgehensweisen in Konfliktsituationen, die als die "36 Strategeme" bekannt ist. Sie soll im "Reich der Mitte" Allgemeingut sein und betont das listenreiche Handeln, das dort weniger negativ besetzt ist, als im westlichen Kulturkreis. Freilich sind die Strategeme vielschichtig und mehrdeutig. Meist ist es ein blumiger Satz, der sinnbildlich einen komplexen Zusammenhang darstellt. Auch bei uns werden die 36 Strategeme immer bekannter und sind die Grundlage vielfältiger Ratgeberliteratur. Im Internet sind sie mittlerweile leicht zu finden. Wenn es stimmt, dass die Strategeme eine Sammlung bewährten strategischen Verhaltens sind, dann lässt sich damit eine These überprüfen, die dem Boulelexikon zugrunde liegt. Der zufolge sind nämlich komplexe Spiele – und ein solches ist das Pétanque zweifellos – auch Realitätsmodelle, deren Gesetzmäßigkeiten in die reale Welt übertragen werden können und vice versa.

 

Schauen wir uns also an, ob sich Bekanntes aus dem Pétanque in den Strategemen wiederfinden lässt. Gewinnen wir dabei einen Katalog listenreicher Handlungsmuster. Rufen wir uns längst verinnerlichte Handlungsweisen einmal wieder ins Bewusstsein:

 

1. Den Kaiser täuschen und das Meer überqueren

Das erste Strategem ist an eine Anekdote angelehnt, der zufolge ein Kaiser gegen seinen Willen dazu gebracht wurde, auf einem Feldzug das Meer zu überqueren. Hierzu wurde ihm vorgegaukelt, ein Schiff, welches ihn schließlich über das Wasser trug, sei ein Haus. Nachdem er es betreten hatte, fand er sich vor vollendete Tatsachen gestellt – denn das vorgebliche Haus legte ab – und der Feldzug konnte stattfinden.

Wir haben es hier mit einem Vorgehen zu tun, bei dem ein Ziel durch Verschleierung der wahren Absichten erreicht wird. In diesem Fall wird ein Akteur der eigenen Seite getäuscht.

Im Pétanque finden wir Ähnliches vor, wenn erfahrene und unerfahrene Spieler eine Mannschaft bilden. Oft sind Neulinge übernervös, zögerlich und unstet in ihrem Spiel. Erfahrene Spieler wissen dennoch damit umzugehen. In einer Situation, in der eigentlich geschossen oder die Sau gezogen werden müsste, empfehlen sie dem Anfänger, einfach eine Kugel in Richtung des Zieles zu legen. Das geschieht in dem Wissen, dass ohnehin viele Kugeln "durchgelegt" werden - also mit zu hoher Geschwindigkeit ihr Ziel errreichen. So besteht eine gute Chance, durch "ungewolltes" Schießen oder Sauziehen dennoch erfolgreich zu sein. Kann das Legen einer Kugel viel Schaden anrichten, lässt man einfach an einer ungefährlichen Stelle schießen. Das erspart Misstrauensbekundungen und maskiert das eigentliche Ziel – die Abwendung  eines Schadens. Das Lenken von Mitspielern mittels Verschleierung der wahren Intention ist auch unter versierten- aber wenig miteinander vertrauten Spielern angebracht. Es ist besser, ein alternatives Ziel zu benennen als eine Aktion, die einem nicht behagt und die man dem Mitspieler nicht zutraut, rundheraus abzulehnen.

Wie man sieht, ist der taktische Umgang mit Verbündeten den Boulespielern keineswegs fremd. Er kann jedoch auch zu Problemen führen, was in "Lob" und "Mannschaftsversagen" behandelt wird.

 

2. Wei belagern, um Zhao zu retten

Das Land "Wei" greift das Land "Zhao" an. Das Land "Qi" wird um Unterstützung gebeten. Die Hilfstruppen marschieren aber nicht Richtung "Zhao" um ihrem Verbündeten direkt zur Hilfe zu eilen, da beide gemeinsam immer noch zu schwach wären. Sie leisten indirekte Unterstützung, indem sie die Hauptstadt des Aggressors "Wei" belagern, dessen Truppen nun den Rückzug antreten müssen, ihre Kräfte dabei aufbrauchen und sich verzetteln.

Beschrieben wird hier ein Fall, bei dem der Erfolg in der Vermeidung einer direkten Konfrontation liegt. Es wird der schwache Punkt eines Kontrahenten gesucht. Indem dieser angegriffen wird, werden des Gegners ursprüngliche Pläne durchkreuzt. Die Schwächung geschieht nicht durch Kampf, sondern durch Ressourcenverbrauch.

Im Pétanque verteidigt ein guter Schütze einen eigenen Punkt, indem er alle Gegnerkugeln angreift, die ihrerseits einen Punkt markieren. In direkter Konfrontation legt man nun eine Kugel nach der anderen und wartet, ob der Tireur einmal verfehlt. Ein indirektes Vorgehen – gemäß dem hier behandelten Strategem – besteht darin, die beste Kugel des Gegners selbst anzugreifen und das möglichst mit Carreaux. Hierdurch hat dieser dann nichts mehr zu verteidigen, muss selbst legen und sieht seine Pläne durchkreuzt. Durch das Legen tritt eine Unterbrechung des Wurfrhythmus ein, der die wichtigste Ressource des Schützen ist. Ein ähnlicher Fall liegt vor, wenn ein besonders guter Spieler seine Kugeln zurückhält und damit die Entfaltung des Gegners hemmt (Genauer beschrieben im Kapitel: „Fleet-in-being“). Auch hier wird das Ziel auf indirektem Wege und in Vermeidung direkter Konfrontation erreicht.

Die Umkehrung der Initiative durch Carreau gehört zu den Standards im Pétanque. Auf den Bouleplätzen wird also oft "Wei belagert um Zhao zu retten".

 

3. Mit dem Messer eines Anderen töten

Eine schwierige Aufgabe wird hier nicht selbst bewältigt, sondern ein Verbündeter eingespannt. Dieser handelt als Stellvertreter, während der eigentlich Begünstigte passiv bleibt.

Im Pétanque füllen die Spieler bestimmte Rollen aus, einer ist Pointeur, der andere Tireur. Sieg oder Niederlage hängen davon ab, ob deren Aktionen gelingen. Es kommt vor, dass ein Teammitglied spürt, die auszuführende Handlung werde misslingen. Dann wird der Partner vorgeschickt, die Situation zu lösen. Ein strauchelnder Tireur darf dann seine Kugeln aufsparen, weil sein Mitspieler "unschießbar" legt – nämlich die unmittelbare Nähe der besten Gegnerkugel suchend. Ein schwächelnder Leger wird geschont, weil sein Schütze die guten Gegnerkugeln sämtlich beseitigt.

Beim Boule wird häufig "mit dem Messer des Anderen getötet". Es gilt zu erkennen, welcher der Spieler momentan besonders gute Arbeit leistet und daraus Honig zu saugen. Für den Mannschaftsport ist es charakteristisch, füreinander die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Das Delegieren von Verantwortung setzt allerdings Vertrauen voraus – ein Zusammenhang, der im Kapitel Mannschaftsversagen behandelt wird.

 

4. Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten

In diesem Strategem geht es darum, vorbereitet zu sein. Der Gegner soll handeln und sich dabei erschöpfen. Man lässt die Zeit für sich arbeiten, wissend, dass die eigene relative Stärke dadurch zunimmt.

Beim Boule spielen Gegner manchmal über ihrem Niveau, weil sie im Flow sind, sich also in einen Rausch gespielt haben. Dieser Zustand kann abrupt enden und man tut gut daran, den Spielrhythmus zu verzögern und hinhaltend zu spielen, bis die mentalen Kräfte wieder Normalmaß erreichen.

 

In Turnieren profitiert man meist davon, Spiele so anzulegen, dass viele Punkte in einer Aufnahme erzielt werden. Die Partien werden kürzer und es werden Kräfte gespart, die später noch gebraucht werden. (siehe: Leergespielt).

 

5. Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnutzen

Hier geht es darum, aus einer gegnerischen Krise einen Nutzen zu ziehen. Eine Schwächesituation wird für den Angriff genutzt.

Man kann anstreben, ein Spiel aus eigener Kraft zu gewinnen (siehe: Kugelvorteil und Initiative). Zuweilen fällt es jedoch leichter, des Gegners Krisen auszunutzen. Einige Beispiele: Wir legen bewusst "zwingende" Kugeln, wenn das Gegnerteam eine Schussschwäche zeigt, damit es sich leerspielen muss und uns ausgeliefert ist. Bei einer Legeschwäche schießen wir früher als üblich. Weiterhin besteht die Möglichkeit, ein Team, das nicht perfekt legt und unwillig schießt, mit Bastarden auszumanövrieren. Möglich ist auch Folgendes: Einem Schützen mit zeitweiliger Ladehemmung werden immer wieder gute Gelegenheiten angeboten. Er wird seine Kugeln daran verschwenden und seinen Frust mehren.

Das Ausnutzen von Schwächephasen ist das täglich´ Brot des Boulespielers. Fast möchte man den Rat geben, darin nicht die einzige Vorgehensweise zu sehen.

 

6. Im Osten lärmen, im Westen angreifen

Thema dieses Strategems ist der Scheinangriff. Dem Gegner wird vorgespielt, die Entscheidung finde an einem bestimmten Punkt statt, um sie dann an einem anderen Ort herbeizuführen. Beispielsweise unternimmt eine Armee, die einen Fluss überqueren möchte, an bestimmter Stelle besonders auffällige Vorbereitungen, um den Gegner zu verleiten, seine Kräfte am gegenüberliegenden Ufer zu konzentrieren. Heimlich überquert sie den Fluss dann unbehelligt an einem anderen Uferabschnitt. Ziel von Scheinangriffen ist die Verwirrung, die dem Gegner die Verteidigung erschwert.

 

Beim Boule tritt diese Situation ein, wenn das Spiel darauf ausgelegt ist, das Cochonnet zu bewegen. Will ein Gegner einen bestimmten Ort verteidigen, indem er mehrere seiner Kugeln dort konzentriert, so bietet es sich an, das Cochonnet von dort zu entfernen (Sauziehen). Der Ort der Entscheidung wird auf diese Weise verlegt. Es ist häufig der psychologische Effekt zu beobachten, dass Spieler hierdurch in Verwirrung geraten, weil ihre bereits fertigen Pläne nicht aufgehen. Besonders Spieler, die mehrere Züge im Voraus berechnen, spielen dann weniger gute Kugeln, weil ihre Gedanken noch nachwirken.

Die Verwirrung des Gegners durch Verlagerung des Ortes der Entscheidung ist ein Kernelement im Pétanque. (Siehe hierzu: Die Kugel dahinter)

 

7. Etwas aus dem Nichts erzeugen

Bei diesem Strategem gilt es, mittels Trugbildern und falschen Informationen die wahre Lage zu verschleiern. Ziel ist es, durch Fehlalarme des Gegners Aufmerksamkeit ermatten zu lassen.

 

Manche Bouler bedienen sich dieser Taktik, indem sie Punkte anzeigen, die nicht da sind. Während der Gegner sich auf seinen nächsten Wurf vorbereitet, wird der scheinbar gut gemeinte Hinweis eingestreut: "Ich glaube ihr habt den Punkt". Bis die Lage geklärt ist, ist ein Teil der Konzentration verbraucht und der Wurfrhythmus unterbrochen. Ein wirklich destruktives Vorgehen, das die Spielfreude zerstört. Eine noch faire Variante besteht in dem beiläufig eingestreuten Kommentar, man könne ja gleich die Sau ziehen. Hierdurch sollen Kontrahenten verleitet werden, Kugeln absichtlich durchzulegen. Diese sind freilich dann verschwendet, wenn die Absicht nur vorgetäuscht ist. Man hat also eine Gefahr aus dem Nichts heraufbeschworen.

Das Arbeiten mit falschen Informationen kennt jeder Spieler. Im Interesse der Spielkultur ist hier Mäßigung angebracht. Siehe hierzu auch: Guerilleros auf dem Bouleplatz.

 

8. Heimlich nach Chencang marschieren

Hier geht es darum, ein ganzes Vorhaben zu verbergen, um es dann ungefährdet ausführen zu können. Anders als im ähnlichen sechsten Strategem geht es aber um die Verschleierung des Vorhabens und nicht um einen Scheinangriff, der lediglich über dessen wahren Ort täuschen soll. Etwas abstrakter gedacht, fällt darunter auch Kritik, die durch unverfängliches Handeln geäußert wird.

 

Eine Armee möchte den Gegner bei einem Angriff möglichst überraschen. Hierzu unternimmt sie alles, um zu signalisieren, der Angriff stünde keinesfalls bevor. Der Feind wiegt sich in Sicherheit und ist dem erfolgenden Schlag hilflos ausgeliefert.

Boulespieler gehen häufig so vor, dass sie bei unbekannten Gegnern und Platzverhältnissen ein Spiel zunächst verhalten und defensiv beginnen. Das andere Team wird studiert und die Möglichkeiten erwogen. In einer späteren Phase wird der Schalter unvermittelt umgelegt und ein aggressives Spiel um sehr viele Punkte eingeleitet. Der Gegner sieht das oft nicht kommen, weil er das verhaltene Vorgehen für Harmlosigkeit hält. Ein "Fünfer", der beim Stand von 7:7 erzielt wird, ist fast immer "tödlich" (siehe: Drei Spielphasen). Auch die implizite Kritik findet sich beim Boule. Ein Leger, der entschlossen in den Kreis geht, obwohl der Situation nach geschossen werden müsste, ist mit dem Schützen nicht zufrieden und bringt das nonverbal zum Ausdruck.

 

9. Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten

In diesem Strategem wird empfohlen, den Streit zweier Parteien abzuwarten, bis sie sich gegenseitig so geschwächt haben, dass daraus eine günstige Gelegenheit entsteht. Man soll also der sprichwörtliche Dritte sein, der sich freut, wenn zwei sich streiten.

 

Nun bekämpft man im Pétanque stets einen Gegner nach dem anderen, kann sich also nicht einfach in eine heiße Partie einschalten. Dennoch ist es bei Turnieren ein tröstlicher Gedanke, nicht all die schweren Gegner selbst schlagen zu müssen. Sie werden sich auch gegenseitig dezimieren und häufig scheiden Angstgegner auf diese Weise schon aus, ohne dass mit ihnen die Klingen gekreuzt wurden. Daraus lässt sich Zuversicht gewinnen.

 

 

Das indirekte Vorgehen in Konflikten, das Verbergen von Zielen und Erschaffen von Trugbildern, das geduldige Abwarten, Delegieren und Taktieren und die Suche nach Schwachpunkten waren sämtlich Themen in den ersten 9 Strategemen. All das konnte auch im Pétanque verortet werden. 

 

 

 

Thorsten


Dieser Artikel wird fortgesetzt mit: Die 36 Strategeme und das Pétanque Teil 2

Zu den 36 Strategemen siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/36_Strategeme


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Zum Bild: Spielsteine des Spiels "MAH-JONGG". Es erfreut sich in China großer Beliebtheit. Im Westen besitzt es ebenfalls seine Anhängerschaft. In seiner heutigen Form wurde es in den USA entwickelt und steht hier symbolisch für die Möglichkeit, östliches und westliches Denken erfolgreich zu verbinden.  

Siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Mah-Jongg