Momentum


 

"Bereitsein ist viel, warten können ist mehr,

doch erst den rechten Augenblick nützen, ist alles"

                                    Arthur Schnitzler

 

In dem Artikel "Vom Umgang mit wechselndem Glück" wurden zwei Krisenzustände unterschieden, die einem Pétanquespieler immer wieder begegnen. Die einen sind durch Vorbereitung beherrschbar, die anderen müssen irgendwie überlebt werden. Wenn die Krise als Flut daherkommt, kann sie im ersteren Falle durch Deichbau abgewendet werden; andernfalls sollte man schwimmen können.

 

Anders als das Schicksal, dass sich durch unsere Maßnahmen nicht beeindrucken lässt, ändern wir unser Verhalten, wenn wir unter Druck geraten. Physikalisch gesehen, lässt sich Druck als Widerstand verstehen, den die Materie der Verkleinerung des Raumes entgegensetzt, der ihr zur Verfügung steht. Ebenso empfinden wir Spieler einen lastenden Druck, wenn unsere Handlungsmöglichkeiten abnehmen. Eine interessante Eigenschaft des Druckes ist, dass er prinzipiell in jede Richtung gleichermaßen wirkt. Drückt man ein rohes Ei mit einer Pétanquekugel gegen eine Wand, so ist der Druck, den die Kugel auf die Eischale ausübt, identisch dem, den die Kugel selbst erfährt. Die Frage ist nur, wer zuerst nachgibt. Vermutlich würde das Ei eher eine Drucksituation empfinden als die Kugel und dennoch ist diese Analyse rein subjektiv.

 

Für das Pétanquespiel ist bedeutsam, dass sich die Mannschaften gegenseitig unter Druck setzen, sich also wechselseitig in die Krise stoßen. Der Druck ist immer vorhanden, sein Empfinden wechselt aber zwischen den Parteien hin und her. Auch bei einer Führung von 12 : 0 kann das Spiel in wenigen Aufnahmen verloren werden. Die Gefahr wird natürlich nicht empfunden; die Möglichkeit als zu unwahrscheinlich erachtet. Es ist eine simple Tatsache, dass subjektives Empfinden ein wesentliches Element des Spiels ist. Auf dieser "Klaviatur" gilt es zu spielen.

 

Kehren wir nun zurück zu den Überlegungen aus dem Artikel "Vom Umgang mit wechselndem Glück", dann muss es unser Ziel sein, den Gegner derart unter Druck zu setzen, dass sich bei ihm das Gefühl einstellt, nicht mehr vollständig Herr der Lage zu sein. Die Pétanquekugel muss für einen kurzen Moment vergessen, dass sie aus Stahl ist und das Ei aus Kalk. Nur so können wir herausfinden, ob der Gegner nur ein guter "Deichbauer" ist oder ob er auch zu "schwimmen" vermag. Das gelingt bei technischer Überlegenheit natürlich leicht, dem Unterlegenen stehen jedoch auch Möglichkeiten offen.

 

Für die das Spiel kontrollierende Mannschaft ist es immer unangenehm, wenn Unerwartetes und Zufälliges geschieht. Eine Gegnerkugel verspringt und macht wider Erwarten dennoch den Punkt, das Cochonnet wird gezogen, was die Lage vollkommen verändert oder ein eigentlich sicherer Schütze verfehlt mehrfach und fühlt sich plötzlich von seinen Kameraden unter Druck gesetzt; unerwartet wird Carreau geschossen und eine Situation völlig umgekehrt; eine unterlegene Mannschaft leistet Widerstand, indem sie das Spiel "eng" macht, des Gegners Schüsse kontern daraufhin unglücklich - Ereignisse, bei denen man kurz ins Grübeln kommen kann. Das sind die Momente, die ein technisch unterlegenes Team ausnutzen muss und die sich mit dem Begriff "MOMENTUM" beschreiben lassen.

 

 

Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Momentum - Taktik / Boulelexikon
Die Pyramide symbolisiert Stärke, Ausdauer und das Mysterium [1] - Zutaten, derer es auch zum erfolgreichen Spielen bedarf

Ein Momentum ist ein günstiger Augenblick. Niemand weiß, wie lange er anhält oder ob er wiederkehrt, darum ist es weise, ihn zu nutzen. Die Besonderheit liegt darin, dass ein Momentum, während der Druck objektiv in beide Richtungen wirkt, das subjektive Druckempfinden verändert. Es beflügelt die eine Seite, während es die andere erschüttert. Für einen kurzen Augenblick lässt das Druckempfinden auf einer Seite nach und nimmt auf der anderen Seite zu. Das ist wesentlich, denn Spiele werden im Kopf entschieden.

 

Natürlich muss zunächst überhaupt einmal erkannt werden, dass man das Momentum auf seiner Seite hat. Wer dann riskanter spielt und den Druck erhöht, findet heraus, ob der technisch überlegene Gegner womöglich mental unterlegen ist. Das ist meist dann der Fall, wenn sich Spieler als reine Techniker verstehen, oder wenn es Differenzen oder Egoismen innerhalb der Mannschaft gibt (Mannschaftsversagen). Die Vorteile des Momentum liefern auch einen Grund, die Spielführung in nur eines Spielers Hände zu legen (Führung im Pétanque und Strategie, das unbekannte Wesen). Ein Momentum erkennen und es nutzen, das gelingt dem Einzelnen besser als der Gruppe [2]. Ferner ist das Momentum ein Argument dafür, nicht zu konventionell zu spielen und damit ausrechenbar zu werden. Nichts behagt technisch überlegenen Spielern mehr, als die nächsten Züge immer schon voraussehen zu können. Sie aus dieser "Zone der Behaglichkeit" zu reißen, bedarf es freilich manchmal der Hilfe des Zufalls.

 

Das Momentum erkennen, den Druck erhöhen, das Spiel von der technischen auf die mentale Ebene bringen, kreativ handeln, so sollten Teams spielen, deren Papierform sie nicht für das Siegertreppchen prädestiniert.

 

 

 

"Wir wissen aber, dass sich im Krieg die Geschicke gleichmäßiger verteilen,

als dem Unterschied der beiden Stärken entspräche; und für uns heißt sofort nachgeben, die Hoffnung aufgeben, handeln wir aber, ist auch noch Hoffnung, aufrecht zu stehen."

 

Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges

                               - Aus dem "Melierdialog" -

 

Thorsten


[1] Zur Pyramidensymbolik sei folgender Artikel empfohlen, der sich abseits des wuchernden Dickichts von Verschwörungstheorien hält:  http://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/was-bedeuten-pyramide-schrift-auf-der-us-dollarnote/

 

[2] Friedrich Schiller schrieb in seiner Geschichte des 30 jährigen Krieges: "Der große Zeitpunkt fand nur mittelmäßige Geister auf der Bühne, und unbenuzt blieb das entscheidende Moment, weil es den Muthigen an Macht, den Mächtigen an Einsicht, Muth und Entschlossenheit fehlte." Viele Pétanquepartien offenbaren, dass es den Einsichtigen und Erfahrenen an Entschlossenheit gebricht, während die Mutigen nicht selten die nötige Kenntnis in tiefere Zusammenhänge nur unzureichend erlangt haben.

 

 

Ergänzung: Auf die sich aus der Fixierung auf das Momentum möglicherweise ergebenden langfristigen Folgen, wird eingegangen in: "Chronos und Kairos"


Bild: Pyramide nahe dem Schloss Derneburg, tatsächlich als Mausoleum fungierend. Wie nur weniges, symbolisiert solch ein Bauwerk das Rätselhafte, weshalb es diesen Artikel bebildert, denn ein Momentum tritt immer unerwartet auf und hat oft eine unerklärliche Wirkung. Es ist ein Mysterium, dass häufig auch in der Nachschau den Akteuren Rätsel aufgibt.