Gegensätze


"Der Mensch ist Herr der Gegensätze, sie sind durch ihn,

und also ist er vornehmer als sie."

Thomas Mann - Der Zauberberg

(Aus "Hans Castorps Schneetraum")


Pétanque / Boule - Tipps & Tricks - Gegensätze - Psychologie / Boulelexikon
Die Handhabung von Gegensätzen macht ein Spiel reizvoll

Im Spiel ist es zuweilen verzwickt: Nichts Unternommenes zeitigt uneingeschränkt positive Wirkung. Mag eine Aktion auch noch so gelungen sein, immer führt sie auch Negatives im Schlepptau. Frustrierend!

 

Sicherlich liegt das in der Natur der Sache. Was ist schon kostenlos zu haben? Bedeutet spielen dann nicht, mit der unabänderlichen Ambivalenz umzugehen? Zeichnet es nicht den guten Spieler aus, Gegensätze zu erkennen, zu akzeptieren und so gut es geht miteinander auszusöhnen? Das Berücksichtigen von Gegensatzpaaren ist ein Weg, schwierige Aufgaben zu meistern, indem ihre Struktur erkannt wird. Im Wissen um unausweichliche Dilemmata kann gelassener gehandelt werden.

 Rufen wir uns einige Beispiele ins Bewusstsein:

 

Schießen oder Legen? Die Mutter aller Diskussionen im Pétanque. Einreißen oder aufbauen? Nur selten ist beides möglich. So oder so, auf das Gelingen kommt es an. Schlimmer als falsche Entscheidungen wiegen Zweifel. Sie verderben die Würfe.

 

Risiko oder Sicherheit? Das Eingehen von Risiken führt zu ausgeprägteren Siegen aber auch zu herberen Niederlagen. Riskantes Spiel ist die Siegchance der Unterlegenen. Risikoscheu kann, so gesehen, auch ein Risiko darstellen. Wagnisse wählen heißt aber auch, mögliche Verluste billigen. In Spielen ist die Notwendigkeit zum Risiko die einzige Sicherheit.

 

Präzision oder Streuung? Mit dem Erstreben von Präzision - also mit dem sich Entscheiden für eine einzige zielführende Option - werden gleichzeitig viele Möglichkeiten des Scheiterns definiert. Ein nur zufälliges Gelingen der Würfe erscheint dann als Niederlage. Auf Wahrscheinlichkeiten setzen und nach dem Schrotschussprinzip multiple Ziele anvisieren, vermehrt hingegen die Anzahl denkbarer Erfolge. Sich in Präzision zu üben, ohne die Demut vor der Glücksgöttin zu verlieren, ist jedem Spieler eine Herausforderung.

 

Perfektion oder Laissez faire? Perfektion für den Augenblick zu erwarten, bedeutet sicheres Scheitern, sie für die Zukunft zu erhoffen, erhält das Streben. Ein "Laissez faire" ohne Bemühen bedeutet Gelassenheit aber auch Stagnation.

 

Individuum oder Gruppe? Der Einzelne siegt nur in der Gruppe, die Gruppe jedoch durch den Einzelnen. Nur an sich zu denken macht erfolglos, nur an andere denken, desgleichen.

 

Üben oder Spielen? Ein Spiel üben heißt, es ernst nehmen. Spielen ist aber nur im Spiel richtig zu erlernen. Bedeutet das nicht, jedes Spiel als Übung zu sehen? Übung und Spiel unterscheiden sich jedoch durch den Siegeswillen der Handelnden. Wenn jeder übt, ist es kein Spiel, wenn jeder spielt, keine Übung - eine Gratwanderung.

 

Erfolg oder Entwicklung? Gut beherrschte Züge stehen jenen gegenüber, denen es an Praxis mangelt. Wird stets der wahrscheinliche Erfolg gesucht, ändert sich daran wenig. Um langfristiger Erfolge willen, bedarf es der Bereitschaft, Lehrgeld zu zahlen. Ungewohntes zu üben, ist der sichere Weg, es künftig zu beherrschen, auch wenn das für den Moment Unsicherheit bedeutet.

 

Ernst oder Freude? Wer ein Spiel mit Ernst betreibt, weiß um die Notwendigkeit, sich zu mühen. Dennoch haben Mühen letztlich nur ein Ziel: Die Freude, die ein Kind gelingenden Handelns ist. Freude ohne Anstrengung wird schnell schal. Freudloser Ernst gehört nicht in die Welt des Spiels.

 

Materie oder Psyche? Kann ein Erfordernis allein aus der Lage der Kugeln erschlossen werden? Ist da nicht immer noch ein handelnder Spieler? Oft ist das vordergründig Richtige objektiv falsch, weil es die Subjektivität der Aufgabe missachtet. Ein Zug, der für ein Individuum richtig erscheint, kann sich für ein anderes als falsch erweisen. 

 

Punkten oder hemmen? Selbst zu Punkten ist die eine Seite der Medaille, es dem Gegner zu verwehren, die andere. Das Abwägen zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist oft ein Tanz auf des Messers Schneide. 

 

Auf Sicht fahren oder strategisch denken? Stets nur den nächsten Schritt angehen, befreit von Gedankenballast. Es ist, als führe man auf Sicht. Mangelnde Weitsicht kann jedoch planloses Herumirren im Nebel bedeuten. Leicht wird dann die richtige Abfahrt verpasst. Planung kann das verhindern, gebiert aber Zweifel und Ambitionen.

 

Drall oder rollen lassen? Eine Kugel kann ohne Eigenrotation oder mit Drall bewegt werden. Ersteres ist unkompliziert, Letzteres verlangt mehr Feingefühl und Vorstellungskraft. Beides beherrschen und zur rechten Zeit wählen, darin liegt die Kunst.

 

Flach oder steil? Kugeln können flach geworfen, eine lange Wegstrecke auf dem Boden zurücklegen oder steil gespielt, erst spät Grundberührung erfahren. Die flach Gespielten sind vielen Hindernissen ausgesetzt, die von den steil Geworfenen elegant überflogen werden. Dafür hängt bei diesen alles vom Gelingen der rauen Landung ab.

 

Schematisch oder flexibel: Sich an ein Schema halten bringt Sicherheit, spart Erklärungen, folgt Bewährtem macht jedoch ausrechenbar. Das Verlassen ausgetretener Pfade ist mühevoll, verschafft allerdings einen Vorsprung und gibt dem Gegner zu denken. 

 

Das Denken in Gegensätzen macht klar, dass im Pétanque kein Königsweg existiert. Immer bedeutet die Wahl einer Option auch den Verzicht auf die positiven Eigenschaften der verworfenen Möglichkeit. Ein Spieler hat sich zwischen Alternativen zu entscheiden, die Vor- und Nachteile beinhalten. Das Wissen um dieses Dilemma erleichtert das Treffen von Entscheidungen und hilft, negative Folgen stoisch zu ertragen.

 

Den Pétanquespieler werden immer wieder Vorhaltungen erreichen, dass dieses nicht hätte unterbleiben dürfen und jenes hätte geschehen müssen. Sehr oft sind Menschen die Quelle solcher Sentenzen, die gedanklich nicht tief genug in die Crux eingedrungen sind, die schlicht darin besteht, dass es nicht möglich ist, ein Ding zu tun, ohne ein anderes zu lassen. "Was ausgeblieben ist, hätte stattgefunden, wenn das, was stattfand, ausgeblieben wäre" [1]

 

Himmel und Hölle bekommt man immer im gleichen Sack!

Anonymus

 

Thorsten


Ergänzung 1:

 

Der unbegangene Weg

 

In einem gelben Wald, da lief die Straße auseinander,

und ich, betrübt, daß ich, ein Wandrer bleibend, nicht

die beiden Wege gehen konnte, stand

und sah dem einen nach so weit es ging:

bis dorthin, wo er sich im Unterholz verlor.

 

Und schlug den andern ein, nicht minder schön als jener,

und schritt damit auf dem vielleicht, der höher galt,

denn er war grasig und er wollt begangen sein,

obgleich, was dies betraf, die dort zu gehen pflegten,

sie beide, den und jenen, gleich begangen hatten.

 

Und beide lagen sie an jenem Morgen gleicherweise

voll Laubes, das kein Schritt noch schwarzgetreten hatte.

Oh, für ein andermal hob ich mir jenen ersten auf!

Doch wissend, wie’s mit Wegen ist, wie Weg zu Weg führt,

erschien mir zweifelhaft, daß ich je wiederkommen würde.

 

Dies alles sage ich, mit einem Ach darin, dereinst

und irgendwo nach Jahr und Jahr und Jahr:

Im Wald, da war ein Weg, der Weg lief auseinander,

und ich – ich schlug den einen ein, den weniger begangnen,

und dieses war der ganze Unterschied.

 

Robert Frost

in der Übersetzung von Paul Celan

 

 


Ergänzung 2: Einen bedeutenden Gegensatz fand ich prägnant beschrieben in dem von Rolf Strojec übersetzten und online zur Verfügung gestellten Lehrbuch: „Un autre Idee de la Pétanque“ (Ein anderer Ansatz von Pétanque) - Goffoz, Goffoz-Durand, Peronnet -, weshalb ich die Passage hier im Wortlaut zitieren möchte:

 

"Das Pétanque, das zu einer leidenschaftlichen Aktivität geworden ist, bei der die Männer ihren "Status" und ihre "Männlichkeit" mit Exzentrik und Schärfe verteidigen, kollidiert heute mit den Zwangsanforderungen eines sterileren, besser kontrollierten Show-Sports, dessen Entwicklung durch die Mediatisierung vorangetrieben wird. Der Zusammenprall der Kulturen ist so stark, dass er den Zugang dieses Sports zum olympischen Kanon immer wieder in Frage stellt. Ein langsamer, aber unausweichlicher Wandel vollzieht sich durch folkloristische, institutionelle, kommerzielle, mediale und erzieherische Entwicklungen, die oft widersprüchlich sind. Diese Paradoxien schaden dem Image dieses Sports, der doch eigentlich ein konstruktives und erzieherisches Gleichgewicht zwischen dem Erreichen eines Normergebnisses und der Freude an einem gelungenen Besten oder einem verdienten Sieg anstreben sollte. Für manche ist Pétanque ein Fortschritt, wenn es sportlich und international wird, für andere ein Rückschritt, wenn es die Lust und die Extravaganz seiner Vorbilder verliert."

 

… ja, so ist es wohl. Ich habe beide Welten kennengelernt und mich daran abgearbeitet: das Pètanque der Exzentriker und der derben Sprüche, der Weinseligkeit und überschäumenden Emotionen; und das sterile Pètanque der Turniere, wo stiller Ernst regiert und Konzentration und innere Versammeltheit der Akteure, selbst Schachpartien zur Zierde gereichten; wo aber Regelversessenheit und Ambitionen häufig das ersticken, was gerade der Sport im Stande wäre, zu fördern: Ritterlichkeit. Hier wie dort aber habe ich erstaunliche Spielkunst gefunden und Menschen, deren Engagement für die Sache des gemeinsamen Spielens viel Gutes hervorzubringen vermochte. Vielleicht sind es einfach zwei Seiten einer Medaille*: Vielleicht ist das eine einfach das Fundament des anderen. Die Basis bedarf des Gipfels als etwas, wohin sie zwar strebt, ohne diesen freilich jemals zu erreichen; ebenso wie der Gipfel eines Fundamentes bedarf, auf dem er ruht und das einzig ihn in jener Höhe hält, die sein Wesen bestimmt.

 

Mein Vater erzählte früher häufig, wie er mit Freunden in der Nachkriegszeit mit einem aus Lumpen zusammengewickelten Fußball - denn echte Bälle waren einfach nicht zu bekommen - zum „bolzen“ gegangen ist, auf der Straße oder in einem Hinterhof, zwischen Ruinen, einfach aus Freude am Spiel, und ich denke mir: Hat nicht gerade diese Epoche des enthusiastischen Straßenfußballs dann jene „Helden“ und Ereignisse hervorgebracht, derer man sich auch heute - nach Jahrzehnten – noch mit einigem Wehmut erinnert, diese geerdeten Spieler und echten Typen? War nicht das autonome und anarchische Gewusel des Straßenfußballs gerade die Basis für die späteren Erfolge, die, obgleich nur von wenigen errungen, in so manchem den Keim dafür legten, dem nachzueifern, den Gedanken zeugend, es sei der Mühe wert?

 

* Ergänzend zu diesen Gedanken siehe: Wie man anständig Pètanque spielt


[1] Michael Onfray - Niedergang - Verlag: Knaus

 

Bild: Landschaft in der Nähe des Großen Fallstein