Das Ohr des Löwen


Schon viele Generationen lang halten in Braunschweig am Löwenwall vier eherne Löwen ihre würdige Wacht. Boulespieler ziehen dort ihre Kreise, doch achten sie ihrer nur wenig. Manchmal aber, vor einem besonders wichtigen Wurf, sieht man den einen oder anderen das Ohr eines Löwen streicheln. Es geht nämlich von alters her die Kunde, dies bringe Glück, und das kam so...

 

Es ist schon lange her, die Franzosenzeit war gekommen und gegangen, da bestellte man zu Braunschweig vier Löwen aus Erz, die sollten im Harzer Örtchen "Zorge" gegossen werden. Schon bald waren alle gefertigt und nur einer fehlte noch, als sich allerlei Missgeschick einstellte. Die Gießerei musste gar bangen, die Frist zu verfehlen. So kam es, dass die Arbeiter noch in der Jahreswende den letzten Löwen gossen. Das aber ist die Zeit der Rauhnächte, in denen nicht nur im Harz manch wunderliche Dinge geschehen.

 

Da nun endlich der letzte Löwe gegossen ward und nächtens einsam in der Werkstatt stand, spähte der Mond neugierig durch das löchrige Dach der Gießerei. Als er den Löwen erblickte, beschloss er, sein schweres Amt kurz ruhen zu lassen, die majestätische Figur genauer zu betrachten. Sie gefiel ihm so außerordentlich gut, dass er mit keckem Finger durch das windschiefe Dach häkelte, den Löwen zu kraulen. So fiel nun ein Mondenstrahl auf das Löwenohr und noch lang nachdem der fahle Geselle weitergezogen war, leuchtete es in der Dunkelheit.

 

Es leuchtete auch noch, als die Gehilfen am nächsten Abend die Werkstatt aufräumten. Sie waren ob der Erscheinung bass erstaunt und wunderten sich gar sehr, als sie bald darauf das Folgende bemerkten: Jeder, der das Ohr berührte, hatte hernach ein erstaunlich glückliches Händchen für die Dinge. Es wollte ihm einfach alles gelingen. Sie glaubten an Hexerei und getrauten sich nicht, jenen Leuten davon zu erzählen, die sich gemeinhin mit allem und jedem auszukennen pflegen. Auch schwand das Leuchten mit dem Schwinden der Rauhnächte bald dahin und so ließ man es damit bewenden.

 

Die Löwen wurden glücklich ausgeliefert, es kamen und gingen andere Zeiten und die Menschen glaubten nicht mehr an wunderliche Dinge, selbst wenn sie diese mit ihren eigenen Augen sahen. So blieb denn die Kunde von des Löwen glückbringendem Ohr nur im Raunen der runzligen Alten bewahrt. Die aber waren uneins, wes Löwen Ohr das rechte sei. Es heißt aber, ein Mensch mit wirklich reinem Herzen könne das Leuchten noch erkennen, wenn die Zeit der Rauhnächte gekommen ist...

 

So müssen sich denn die Boulespieler damit begnügen, wenn sie des Glückes besonders bedürfen, mal dieses und mal jenes Löwenohr zu streicheln und das wird auch so bleiben, bis jemand unter ihnen gefunden wird, der wirklich reinen Herzens ist.

 

Thorsten