Üben oder nicht üben?

- Vom Wert der Unzufriedenheit -  


"Übung ist alles, und insofern ist Genie Charakter"

               Christian Morgenstern


Zum Üben wähle den steinigen Weg!
Zum Üben wähle den steinigen Weg!

An der Frage des Übens scheiden sich im Pétanque die Geister. Während ein Teil der Spieler wenigstens gelegentlich bereit ist, sich in Klausur zu begeben oder gemeinsam mit Gleichgesinnten boulistische Exerzitien zu betreiben, lehnt ein anderer Teil dieses strikt ab und vertraut bei der Verbesserung des Spielvermögens allein auf die Wirkung des Spielens selbst.

 

Es hat den Anschein, als seien beide Wege geeignet, zum Erfolg zu führen, ebenso wie sie auch scheitern können. Wie immer kommt es darauf an, wie man es angeht. Um zu verstehen, warum ein niemals trainierender Spieler dennoch erstaunliche Leistungen zu erbringen vermag, während ein trainingsfleißiger Spieler stagniert, muss man zunächst die inneren Vorgänge genauer verstehen, die beim Training eine Rolle spielen. Sodann kann es gelingen, Sackgassen und Irrwege zu vermeiden und die eigene Leistung immer weiter zu verbessern, gleichgültig, welcher der beiden oben skizzierten Denkschulen man anhängt. Dem wollen wir uns nun widmen, indem wir uns grob an dem "Modell des motorischen Lernens" (nach Fitts und Posner) orientieren, das im Sport weite Verbreitung gefunden hat:

 

Anfänglicher Zustand:

Ein Anfänger des Pétanque mag zunächst seine Würfe unreflektiert und rein nach dem Bauchgefühl ausführen. Einige Spieler bleiben ewig in dieser Phase stecken, wodurch sie letztlich nur eine Wurfart beherrschen und auch nie erkennen, woran es liegt, wenn sie scheitern. Sie spielen unbewusst.

 

Kognitive Phase:

Ein Spieler, der sein Spielvermögen aktiv und systematisch verbessern möchte, muss diesen unbewussten Zustand überwinden! Hierbei ist er gezwungen, sich die Einzelheiten einer zu erlernenden Wurfbewegung genau zu vergegenwärtigen. Dazu zerlegt er - mit dem Verstand - den Wurf in seine Bestandteile. Diese sind beispielsweise: Fußstellung, Armschwung, Ausrichtung des Handrückens, Fingerstellung beim Öffnen der Hand, Zeitpunkt des Loslassens der Kugel, Armhaltung, Körperhaltung, etc. Der Wurf wird also geistig in Faktoren gegliedert, die sämtlich beobachtet und korrigiert werden können. So gerüstet, kann dann mit der Einübung des Wurfes begonnen werden. Dabei ist es erforderlich, sich stetig selbst zu beobachten und fehlerhafte Bewegungen zu verbessern. Es versteht sich von selbst, dass in dieser rein vom Verstand geprägten Phase, von einem lockeren und versierten Spiel nicht die Rede sein kann.

Vergleichen wir die Aufgabe mit dem Auswendiglernen eines langen Gedichtes, so geht es in dieser Phase allein um das Einprägen der Wortabfolge. Von flüssigem Vortrag oder gar einer besonders dramatischen Wirkung ist man noch weit entfernt.

 

Assoziative Phase:

In einer weiteren Phase geht es deshalb darum, ein Gefühl für die zu erlernenden Bewegungen aufzubauen. Man möchte sich in ein Bewegungsmuster hineinfühlen, das bereits mit dem Verstand erschlossen ist, um es besser handhaben zu können. Mit einem wachsenden Gefühl für die Bewegung nimmt die Notwendigkeit ab, sie im Geist zu reflektieren. Das Handeln geschieht unbewusster und wird hierdurch versierter. Es ist daher eine Herausforderung, sich Fehler und Marotten, die sich nun heimlich einschleichen mögen, wieder ins Bewusstsein zu rufen und so abzustellen. In unserem Vergleich mit dem Lernen eines Gedichtes kennen wir an dieser Stelle die Worte und bemühen uns nun um einen annehmbaren Vortrag. Dabei müssen wir darauf achten, das Gedicht nicht an manchen Stellen ungewollt umzuschreiben, indem wir Wortabfolgen einbauen, die uns geläufig erscheinen, im Gedicht aber nicht vorkommen.

 

Autonome Phase:

Schließlich wird eine dritte Phase erreicht, in der die Ausführung einer Technik keinerlei Mühe bereitet, in der sie so autonom abläuft, dass der Verstand kaum Ressourcen investieren muss und somit vollständig entlastet ist. Ein in dieser Phase befindlicher Spieler handelt unbewusst - ähnlich dem eingangs beschriebene Anfänger, nur auf einem technisch höheren Niveau. Die Dinge könnten nun sehr einfach sein und wir hätten an dieser Stelle unseren Zielpunkt erreicht, läge nicht gerade in dieser Unbewusstheit, welche die Quelle eines lockeren und entspannten Spiels ist, der Grund dafür, warum Spieler sich nicht weiter entwickeln. Es ist allzu verführerisch, sich mit einem bestimmten Grad eines einmal erreichten Handlungsvermögens zu bescheiden. Dagegen kostet es Überwindung, sich selbst aus dieser bequemen Sphäre des unbewussten Handelns loszureißen und sich der Mühe der Selbstreflexion zu unterziehen, deren Folge zunächst ein weniger flüssiger und weniger erfolgreicher Bewegungsablauf ist. Dennoch ist genau das notwendig, soll das Leistungsvermögen weiter gesteigert werden. Ob man speziell trainiert oder durch Spielen übt, ist dabei fast gleichgültig, denn in beiden Fällen kann man durch unbewusstes Spielen in eine Sackgasse geraten.

 

- Der Irrweg des Übenden:

Ein regelmäßig übender Spieler verzeichnet irgendwann einen gewissen Erfolg. Bestimmte Dinge gehen ihm leichter von der Hand als andere und verursachen natürlich auch mehr Freude. Das kann dazu verführen, dass immer nur die ohnehin beherrschten Dinge "eingeübt" werden. Spieler, die im Training nur in ihrer Lieblingsentfernung schießen, weil sie dann viele Treffer verzeichnen, oder nur in ihrer gewohnten Weise legen, verschwenden ihre Zeit, denn sie spulen dann lediglich ihre gut beherrschten Automatismen ab. Es ist eigentlich banal: Geübt werden müssen die Dinge, die schlecht beherrscht werden, die eine Herausforderung darstellen.

 

Wer in der Schule lange Balladen auswendig lernen musste, wird möglicherweise heute feststellen, dass er bestimmte Teile davon noch auswendig kennt, während ihm andere entfallen sind. Meist kennt man den Anfang viel besser als das Ende. Das liegt daran, dass die Ballade immer wieder von Anfang an rekapituliert wurde und der Anfang somit viel häufiger geübt wurde als andere Stellen. Schlau wäre es gewesen, irgendwann zu erkennen, dass der Gedichtanfang längst beherrscht wird und die eingesetzte Mühe lieber den schwierigen Stellen zukommen sollte. Ein kluges Training fängt damit an, die Dinge zu erkennen, die verbessert werden müssen. So können erkannte Mängel systematisch und effizient beseitigt werden. Es ist weniger die aufgewandte Zeit, denn die Klugheit der Auswahl der Lektion, die ein Training effektiv macht.

 

- Der Irrweg des Spielenden:

Ein Pétanquespieler, der sich ausschließlich dem Spiele widmet und auf Übungen verzichtet, unterliegt immer der Gefahr, nur auf sein Standardrepertoire zurückzugreifen, weil er dieses ungleich besser beherrscht als seltener eingesetzte Techniken. Die Standards vermag er locker und unbewusst zu spielen; hier ist er am wenigsten vom Versagen bedroht. Es liegt auf der Hand, dass so keinerlei Entwicklung erfolgt. Eine Stagnation des Spielvermögens ist unausweichlich, denn die langfristige Spielerentwicklung wird so dem kurzfristigen Erfolg geopfert.

 

Es gibt aber in fast jedem Spiel Freiräume, die dazu genutzt werden können, weniger Vertrautes auszuprobieren. Gelegentlich hat der Gegner viel Platz gelassen oder keine Kugeln mehr oder es existiert schon ein komfortabler Vorsprung oder es herrscht eine Situation vor, in der ohnehin nur der schwierige Wurf Erfolg verspricht. Das sind die Momente, in denen ein Spieler nicht in seinen alten Trott verfallen darf, sondern sich - im Bewusstsein spielerischer Unzulänglichkeiten - gerade solche Handlungen auswählt, die er nicht gut beherrscht - eben, um geanu diese einzuüben.

 

Es kommt also in beiden Fällen darauf an, sich eines Mangels bewusst zu werden und sich dann der Mühe zu unterziehen, diesen systematisch abzustellen. Einen vollkommen neuen Wurf einzuüben, wird freilich im Solotraining leichter fallen. Ist aber die Arbeit der KOGNITIVEN PHASE einmal geleistet, dann bestehen im Pétanque gute Aussichten, einen Wurf auch durch reines Spielen zur Reife zu bringen. Anders als in anderen Wettkampfspielen hat der Akteur beim Boule relativ viel Zeit, sich zu konzentrieren und sein Handeln vorzubereiten. Diese Zeit müsste er sich eigentlich auch im Training nehmen, wo nur allzu oft in einem sehr schnelle Rhythmus geworfen wird, der im Spiel niemals auftreten kann. Dieses schnelle Werfen verführt dann dazu, unbewusst zu Handeln wo bewusstes Handeln notwendig wäre. Man glaubt dann nur zu trainieren, tut es aber faktisch nicht und das auch noch in einer realitätsfernen Weise. Andererseits trainiert ein Spieler, der sich in einem Spiel die Zeit nimmt, seinen Wurf genau zu planen, auf eine viel wahrhaftigere und realitätsnähere Art.

 

Diesem scheinbaren Widerspruch, dass trainingsfleißige Spieler nicht trainieren, wenn sie es falsch angehen und trainingsfaule Spieler "en passant" trainieren, wenn sie richtig spielen, mag die Absonderlichkeit zu verdanken sein, dass Pétanque eine Sportart ist, in der das Training ein Schattendasein führt. Es zeigt sich darin die Ambivalenz, die der Unzufriedenheit zukommt: Kurzfristig gedacht, stört eine innere Unzufriedenheit das Gleichgewicht und führt zu unausgewogenem Spiel. Auf lange Sicht jedoch ist sie ein starker Motor, der den Spieler antreibt und ihn zu immer neuen Ufern aufbrechen lässt. Genau das ist gemeint, wenn es im "Hagakure" [1], dem wir schon einige Weisheiten entnommen haben, heißt:

 

" Ein Mann, der mit seinen Ergebnissen das ganze Leben lang unzufrieden war,

obwohl er von ganzem Herzen bis zu seinem letzten Atemzug übte,

hat rückblickend sein Ziel erreicht".

 

 

Thorsten


[1]: Das „Hagakure“ ist ein Buch, das auch als „Kodex der Samurai“ bekannt ist. Zwischen 1710 und 1716 in Japan verfasst, empfiehlt es dem Leser, die stetige Verbesserung als Lebensprinzip anzunehmen. Das Erlernen einer Kunst wird so zu einem Weg, den es zu beschreiten gilt. Ein endgültiges Ziel kann und soll nicht definiert werden.

(Es ist nicht möglich, an dieser Stelle auf die Hintergründe des Werkes einzugehen. Wer sich näher damit befassen möchte findet hier einen Einstieg : 

 

http://de.wikipedia.org/wiki/Hagakure


Ergänzung: Das hier gestreifte Problem der Stagnation wird ebenfalls in dem Artikel "Fortschritt und Stagnation" behandelt.


Anmerkung: Dieser Artikel wurde von Darts1.de - Deutschlands größter Dartsseite - für eine Kolumnenreihe übernommen:  https://www.darts1.de/kolumnen/darts-und-petanque.php


Bild von Jerzy Górecki auf Pixabay