Strategie, das unbekannte Wesen


"Die wirkliche Kraft, welcher in dieser Welt alle Dinge gehorchen müssen,

ist geistige Anschauung, geistige Einsicht und geistige Entschlossenheit.“

Thomas Carlyle


Vorbemerkung: Strategie bedeutet ursprünglich "Feldherrenkunst". Bei der Beschäftigung damit stößt man schnell auf militärische Beispiele oder die Aussagen militärischer Akteure. Daran mag mancher Anstoß nehmen. Werden diese hier verwendet, geschieht das nicht, um Kriegshandlungen zu verherrlichen oder, in Verkennung begangener Grausamkeiten, leichtfertig zu schwadronieren. Vielmehr gilt es, Gesetzmäßigkeiten von allgemeiner Gültigkeit nachzuspüren. Wie man bei der Beschreibung des Laufverhaltens der Kugeln der Physik bedarf, so muss, sobald es um den Kampf und das Ringen um Ressourcen geht - und das ist ja im Pétanque gegeben - die Erkenntnis dort gesucht werden, wo sie am tiefsten analysiert wurde und schon lange Zeit vorhanden ist.


Wenn von Strategie und Taktik die Rede ist, kommt es häufig zu Missverständnissen. Oft ist schon die Abgrenzung der Begriffe ein Problem; die Notwendigkeit strategischer Zielsetzungen wird nicht erkannt; oder strategische Pläne werden in Verkennung ihres eigentlichen Wesens vollkommen falsch angelegt. Grund genug, einmal tiefer in diese Materie einzusteigen.

 

Auf zu fernen Ufern
Auf zu fernen Ufern

Das Abgrenzungsproblem - Was ist Strategie, was ist Taktik?

Denken wir uns ein Segelschiff, das von einem Hafen zu einem anderen gelangen soll. Selten wird es sein Ziel in direkter Linie ansteuern. Ungünstige und wechselnde Winde werden es zum Kreuzen zwingen. Das strategische Ziel des Kapitäns ist der Zielhafen. Er erreicht ihn, indem er aus taktischen Gründen, die ihm die Winde auferlegen, von der direkten Linie abweicht und Zwischenziele ansteuert.

 

Taktieren bedeutet also, sich den wechselnden Umständen anzupassen. Strategie bedeutet, ein übergeordnetes Ziel zu verfolgen. Idealerweise dient die Taktik der Erfüllung strategischer Ziele.

 

 

Da im Pétanque ein Spiel in einzelne Aufnahmen gegliedert ist, bietet es sich an, die Entscheidungen, die innerhalb dieser Aufnahmen aufgrund der konkreten Spielsituation getroffen werden, als Taktik zu bezeichnen. Entscheidungen, die mehrere Aufnahmen oder gar das komplette Spiel betreffen und die nicht von der aktuellen Lage einzelner Kugeln beeinflusst werden, sind dagegen strategischer Natur.


 

Das Wesen der Strategie - Der Wert des Vagen

Gelegentlich stößt man auf die Ansicht, Strategien seien bis ins Detail ausgearbeitete Pläne, bei denen - gleich einem Uhrwerk - ein Rädchen in das andere greife. Sie beinhalteten eine bestimmte Anzahl von Schritten, durch welche die Zukunft praktisch vorweggenommen werde und die es nur noch abzuarbeiten gelte. Nichts könnte irriger sein. Ein Stratege, der einen Plan verfolgt, dessen Gelingen von mehreren Faktoren abhängig ist, die sämtlich eintreten müssen, ist entweder kein Meister seines Fachs oder befindet sich in einer verzweifelten Notlage.

 

Strategie ist vielmehr das Fassen und Verfolgen eines leitenden Gedankens durch Zufälle, Widrigkeiten und Ungewissheiten unbeeinflusst. Sie ist aber auch die Abkehr von diesem Gedanken im rechten Moment, zugunsten einer neuen und erfolgversprechenderen Leitidee. Sie ist nicht in Regeln zu fassen und befolgt keine Systeme. Obwohl sie auf logischen Analysen fußt, auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen basiert und alles relevante Wissen beinhaltet, ist sie mehr Kunst als Wissenschaft, ein schöpferischer Akt, Ausdruck von Charakter und Mentalität des Strategen. Sie entfaltet sich zur Gänze, wenn ein Einzelner sie trägt; von einem Kollektiv entwickelt, gerät sie leicht zum lauen Kompromiss.

 

 

 "Feinde der Wahrheit. — Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen."

 

                                                                               Nietzsche

aus: Menschliches, Allzumenschliches

 

Strategie ist auf zwei Bereiche ausgerichtet:

1. Die Bereitstellung der Mittel für den Kampf

2. Der Gebrauch der Mittel im Kampf zur Erreichung eines übergeordneten Zieles.

 

Beim Pétanque begegnet uns die "Bereitstellung der Mittel für den Kampf" in Form der Mannschaftsaufstellung, die so zu erfolgen hat, dass einerseits eine gute Harmonie und Durchschlagskraft erreicht wird, andererseits der vermuteten Aufstellung des Gegners optimal begegnet werden kann. Eine bewusste Mannschaftsaufstellung ist bereits ein strategisches Konzept!

 

Der "Gebrauch der Mittel im Kampf " hat so zu erfolgen, dass ein optimaler Beitrag zur Erreichung des strategischen Zieles geleistet wird.

Beim Pétanque steht man immer wieder vor der Wahl, einen sicheren Punkt "zu nehmen" oder durch höheres Risiko zusätzlichen Gewinn zu erzielen. Wenn beispielsweise eine Strategie darin besteht, den Gegner einzuschüchtern, erfordert das ein auftrumpfendes und riskantes Spiel. Der taktische Sieg in der einzelnen Aufnahme, in Form des einen Punktes, wird dann zugunsten des strategischen Konzeptes, im Spiel Dominanz zu zeigen und es dadurch zu gewinnen, riskiert.

 

Gute Strategien erlauben es stets, auf mehreren Wegen zum Ziel zu gelangen. Da der Ausgang einzelner Kämpfe bzw. Aufnahmen ungewiss ist, muss ihr Charakter vage bleiben.

 

Helmuth von Moltke d.Ä. definierte:

"Die Strategie ist ein System von Aushilfen. ...die Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedinungen."

 

Zu seiner Zeit - also in der Mitte des 19. Jahrhunderts - waren Armeen so groß geworden, dass sie nicht mehr vereint einen bestimmten Punkt erreichen konnten. Straßen und Bahnlinien wiesen eine begrenzte Kapazität auf [2]. Man stand vor dem Dilemma, entweder durch Konzentration der Kräfte eine Armee mit maximaler Kampfkraft an einem bestimmten Ort zu versammeln, die jedoch, da vollkommen unbeweglich, leicht umgangen werden konnte; oder eine zwar zersplitterte Armee, die jedoch flexibel einsetzbar war und deren Kampfkraft sich erst allmählich entfaltete, dezentral zu organisieren.

 

Die strategische Aufgabe jener Zeit bestand also darin, die einzelnen Armeeteile so zu verteilen, dass sie mehrere Bahnen und Straßen nutzen konnten, um eine Vielzahl denkbarer Einsatzorten zu erreichen. Man sieht, dass die strategische Aufgabe - die "Bereitstellung der Kräfte" - dadurch besonders gut gelöst werden konnte, dass sie eben nicht auf ein konkretes Ziel ausgerichtet war, sondern die Erreichung vieler Ziele gleichermaßen ermöglichte. Diese Form der Flexibilität ist ein Kennzeichen guter Strategien. Das Vage ist demnach eine Stärke, keine Schwäche.

 

Beim Pétanque begegnet uns dieses Prinzip auch auf taktischer Ebene. Oft können wir mit einem einzigen Wurf mehrere denkbare Ziele erreichen. Eine Gegnerkugel direkt neben dem Cochonnet kann zwar "geschossen" werden, man kann aber auch einfach eine Kugel in deren Richtung legen. Je nach Abweichung und Geschwindigkeit wird sie den Punkt erzielen, das Cochonnet mitnehmen oder die Gegnerkugel verdrängen und Platz für weitere Kugeln schaffen. Ein solcher Zug mit vager Zieldefinition ist schlau, weil er die Möglichkeit vieler positiver Resultate beinhaltet. Es ist ein guter Zug, weil - und nicht obwohl - er vage ist. 

 

Eingebung, Inspiration - im Spiel darauf setzen!
Eingebung, Inspiration - im Spiel darauf setzen!

In Anwendung dieser Methode auf ein ganzes Spiel, muss ein Stratege die Partie beständig lesen und den Moment erkennen, in dem sich der Gegner eine Blöße gibt. Dann muss er schnell und flexibel entscheiden. Verfolgt er einen starren Plan, demnach beispielsweise erst geschossen wird, wenn eine eigene Kugel aussichtsreich "devant" liegt, verpasst er solche Gelegenheiten durch Inflexibilität. Statt mehrerer gibt es dann nur noch eine Möglichkeit zum Ziel zu kommen.

Einige Beispiele für Strategien, die häufiger gespielt werden.

Beispiel A: Ein Team, das alle Techniken beherrscht, trifft auf eine weniger erfahrene Mannschaft, die überwiegend in einfachem Stile legt, die aber gleichwohl momentan exzellent spielt. Der strategische Plan sieht vor, darauf zu bauen, dass das unerfahrene Team in einigen wenigen Aufnahmen versagt und dann angreifbar ist. In diesen Momenten gilt es, aggressiv zu sein und dann viele Punkte zu erzielen. Es muss also geduldig gewartet werden, bis der rechte Moment gekommen ist. Wann das sein wird, kann niemand wissen. Der Zeitpunkt bleibt zwar vage, sein Eintreten ist gleichwohl wahrscheinlich.

 

Beispiel B: Ein Team hat einen guten Schützen und ist der Ansicht, diesen Umstand für den Sieg nutzen zu können. In Situationen, in denen Punkte auch recht leicht gelegt werden könnten, schießt der Schütze dennoch, wenn es irgend sinnvoll erscheint. Dieses geschieht aus strategischen Gründen, um seinen Rhythmus in dem Spiel nie zu unterbrechen. Es wird daran gedacht, dass sich ein Schütze, der gut ins Spiel findet, auch in späteren Phasen der Partie, oder gar in späteren Spielen des Turniers als Gewinn erweist.

 

Beispiel C: Der Gegner hat gute Leger, kann aber nur unzureichend schießen. Ein Team beschließt nun, seinen exzellenten Schützen, der ein sehr erfahrener Spieler ist, dennoch an Position 1 spielen zu lassen. Er soll viele zwingende Kugeln legen und so den Gegner dazu bringen, selbst zu schießen, was dessen Schwäche ist. Aus dem zu erwartenden Kugelvorteil sollen dann die Teammitglieder den Sieg herausspielen.

 

Beispiel D: Im gegnerischen Team spielt ein gefürchteter Schütze und die Strategie besteht zunächst darin, diesen durch gute Kugeln zu neutralisieren. Im Spiel wird aber beobachtet, dass besagter Schütze sich in einer Krise befindet, er sehr oft verfehlt und immer häufiger die Leger vorschickt. Die Strategie wird nun so geändert, dass dem Schützen absichtlich lukrative Schüsse angeboten werden. Beispielsweise wird mit der eigenen letzten Kugel für einen Punkt geschossen, obwohl der Gegner dann noch einen Schuss für zwei Punkte hat. Damit wird das strategische Ziel verfolgt, die momentane Schwäche auszunutzen, indem durch das stete Auslassen guter Gelegenheiten die Frustration des Meisterschützen sich so stark erhöht, dass der Spieler vollkommen wertlos wird. Gleichzeitig wird dieser davon abgehalten, Kugeln zu legen, was ihm in dieser Phase besser gelingen mag.

 

Beispiel E: Ein erfahrener Spieler leitet sein Team als Milieu. Er spielt mit einem jungen Schützen, der über gute Fähigkeiten verfügt, dessen Selbstbewusstsein und Erfahrung jedoch einen Schwachpunkt darstellen. Um ihm den Druck von den Schultern zu nehmen, wird das Spiel so angelegt, dass erst dann geschossen wird, wenn wirklich aussichtsreiche Kugeln zu verteidigen sind.

 

Beispiel F: Ein Team spielt sehr harmonisch auf kurze Distanz. Dort werden gute Kugeln gelegt und der Schütze ist sicher. Auf längere Entfernungen nimmt die Qualität ihrer beider Würfe jedoch stark ab. Daher wird beschlossen, dem Sauwurf die größte Sorgfalt zu widmen. Wird auf Distanz gespielt, ist die einzige Maßgabe, das Cochonnet zu erobern und wieder kurz zu spielen.

 

Im Pétanque kann auch erfolgreich gespielt werden, wenn lediglich taktiert wird. Mit verbesserter Technik und Erfahrung können die Spieler eine Vielzahl von Situationen meistern. Auch wird es schwer werden, bei einem sehr erfahrenen Team eine Schwäche zu erkennen, die in eine erfolgreiche Strategie münden kann. So enthebt eine gereifte Technik und eine ausgeprägte Erfahrung der Notwendigkeit, Strategien zu entwerfen. Spieler, denen jeder Wurf gelingt, kommen eben auch mit einfacher Taktik weiter. Hinzu kommt, dass ein guter Plan nichts nützt, wenn die Ausführung einfach nicht gelingen will. Dennoch ist strategisches Denken von Nutzen, denn ein guter Plan schadet selten, wenn man richtig damit umzugehen weiß [2]. Spieler, die sich darum bemühen, werden automatisch Stärken und Schwächen aller anderen Spieler analysieren. Dadurch werden sie eine Vielzahl von Einsichten gewinnen, die anderen Spielern entgehen. Auf dem Weg zum wirklich erfahrenen Spieler werden sie zudem, indem sie diese Erkenntnisse nutzen, viele Spiele gewinnen, die andernfalls verloren gingen. Hierdurch wächst jene Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten, ohne die kein Spieler erfolgreich sein kann.

  

 

Thorsten


[1] Das zeigte sich im Preußisch-Österreichischen-Krieg von 1866 sowie im Deutsch-Französischen-Krieg von 1870/71. Siehe hierzu: Gordon A. Craig - Königgräz - Paul Zsolnay Verlag 1997; bzw. Tobias Arand - 1870/71 - Osburg Verlag 2018 

 

[2] Siehe hierzu: Einleitung zum Kapitel "Strategie". 

 

Anmerkung: Dieser Artikel steht in Zusammenhang mit dem Artikel: Die Bedeutung der Strategie. Er ist als eine Konkretisierung zu dem dort entwickelten Strategiebegriff zu verstehen.

 


Bild 1: Russische Fregatte SHTANDART, gesehen in Heiligenhafen

 

Bild 2: Lichtstimmung nahe Wolfenbüttel