Chronos und Kairos


ES IST UNKLUG, IMMER DEN SIEG DAVONTRAGEN ZU WOLLEN.

 Niccoló Machiavelli (1469 - 1527)


Der Gedankenwelt des klassischen Griechenland, deren eine Eigentümlichkeit es war, abstrakte Vorstellungen zu Götterfiguren umzudeuten, verdanken wir einen interessanten Blick auf das Phänomen der Zeit. Zum einen begegnet sie uns in Gestalt des Chronos, dem Gott der Zeit, also der Personifikation der Zeitspanne oder Sinnbild der gleichmäßig verrinnenden Zeit. Zum anderen erscheint sie als Kairos, dem Gott des Augenblicks, den es zu nutzen gilt; dem einen Moment, der den Zeitstrom in ein "Davor" und ein "Danach" scheidet. [1]

 

Zwar ist sich der Mensch bewusst, dass er mit seiner Existenz eine Zeitspanne durchmisst, er existiert jedoch objektiv nur in dem einen gegenwärtigen Augenblick – das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige ist noch nicht – von beidem hat er lediglich ein Gedankenbild [2]. In jeder Sekunde werden die Weichen neu gestellt, werden auf der Grundlage gesammelter Erfahrungen Entscheidungen getroffen, die den Weg in die Zukunft prägen.

 

Im Pétanque erleben wir es, dass sich langfristige Entwicklung und kurzfristiger Erfolg einerseits bedingen, sie sich andererseits jedoch als Antinomien gegenüberstehen [3]. Wie soll der Spieler mit diesem Problem umgehen; wie soll er aus der Vielzahl der Momente den einen entscheidenden herausfiltern, sich für diesen Wappnen, den Kairos – die günstige Gelegenheit – nutzen? Gib es diese Momente überhaupt, in denen in einem Augenblick die Weichen entscheidend gestellt werden, oder sind sie Konstrukte, mit denen der Geist im Nachhinein das eigene Walten mit Sinn anreichert, die nur in der Nachschau so erscheinen, als habe man einen entscheidenden Wendepunkt erlebt? Ist es dann nicht geboten, die Aufmerksamkeit vom Augenblick zu lösen und sie dem rechten Handeln im Zeitverlauf zuzuleiten?

 

Vieles spricht dafür, dass wir die Bedeutung des Dauerhaften systematisch unterschätzen, indem wir das Gleichförmige und häufig Wiederholte aus unserer Erinnerung tilgen und nur das Besondere, das Schrille, die Höhepunkte in ihr bewahren [4] .

 

Wenn wir unseren Freunden von einer Partie berichten, in der wir schlampig und unkonzentriert gelegt haben und vollkommen zurecht bei einem Rückstand von 9 : 12 der Niederlage ins Auge blickten, dann aber durch einen beherzten Schuss in einem einzigen günstigen Augenblick (Kairos) dennoch siegten, was wird das Thema der Erzählung sein? Werden es die vielen schlecht gewählten Données sein, die uns in diese missliche Lage brachten, oder wird die Kunde davon handeln, wie wir mit einem vermeintlichen Geniestreich, entschlossen und nervenstark das Ruder noch im letzten Moment herumreißen konnten?

 

Der analytisch blickende Beobachter wird hier die Empfehlung aussprechen, Spiele künftig systematischer und sorgfältiger anzugehen. Wer aber wollte sich nicht für die Glanztat begeistern und in ihrem Gelingen jene spielerische Qualität erkennen, die es braucht, Krisen zu überstehen und knappe Partien für sich zu entscheiden? Erziehen wir uns aber nicht selbst zu Hasardeuren, indem wir unsere Erinnerung so strukturieren – zu Jüngern des Kairos – die nur für den einen seltenen Augenblick leben und vernachlässigen dadurch Sorgfalt und Achtsamkeit, die wahren Grundlagen unserer Erfolge?

 

 

Boule - Petanque / Tipps & Tricks
Zwei Säulen - keine darf fallen

Offensichtlich ist es sinnvoll, an den Altären beider Götter – des Chronos und des Kairos – zu opfern. Die Crux liegt in der sich immer wieder einstellenden Verlockung, von dem abzulassen, was langfristig richtig und geboten ist. Um des kurzfristigen Erfolges willen, verlässt man den Pfad, sucht Abkürzungen, begibt sich dabei ins Dickicht, unternimmt finale Anstrengungen und riskiert, sich gänzlich zu überheben – den Bogen zu überspannen. Im Augenblick wirkt solches Tun heroisch, doch: Ist es nicht das Schicksal der Helden, früh zu sterben? In der Rückschau können die Versuche, mit zu geringen Mitteln Großes zu erreichen, oft nur belächelt werden. Gelingt es jedoch einmal, sind dadurch im gleichmäßig fließenden Strom der Zeit Markierungen gesetzt.

 

Im täglichen Einerlei kann ohne markante Wegpunkte leicht die Richtung verloren werden. Oft wähnt man sich nur noch auf dem Wege befindlich und merkt in der konturlosen vom gleichförmigen Strom der Zeit durchflossenen Ebene nicht, dass die Reise längst zum Stillstand gekommen ist. In Kämpfen gewinnen wir darüber Gewissheit, legen uns Rechenschaft ab, lesen aus Scheitern oder Triumph unsere Position, vermögen in Kenntnis dessen, die künftige Route abzustecken.

Wenn wir so verfahren, wenn wir sowohl dem Chronos, als auch dem Kairos die Ehre erweisen, gelangen wir jeweils ein Stück voran. Die vielen Augenblicke, die wir erlebt und bestanden haben, vereinen sich dann rückblickend zu jener Strecke, die wir als unseren Weg erkennen.


Thorsten


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Kairos

 

[2] Diese Ansicht ist in streng naturwissenschaftlichem Sinne nicht mehr haltbar. Die Entdeckungen      Albert Einsteins haben enthüllt, dass die Begriffe "Zukunft", "Gegenwart" und "Vergangenheit" anders aufzufassen sind, als es die Intuition nahelegt. Siehe hierzu: 

http://www.spektrum.de/video/relativitaetstheorie-wie-man-ein-paradoxon-per-guillotine-loest/1512347

 

[3] Im Grunde kann das Boulelexikon auf zweierlei Arten gelesen werden:

Einerseits zielt es darauf ab, sich den Kairos zum Freund zu machen. Taktik, Technik, Strategie, Kommunikation und Psychologie dienen dazu, Gelegenheiten zu erkennen und die Gruppe, sowie den Einzelnen in jeder Hinsicht zu befähigen, sie zu nutzen.

 

Andererseits wird dem Chronos gehuldigt, wenn empfohlen wird, jede Kugel mit Bedacht zu spielen, jede Aktion mit derselben Intensität auszuführen; gelungene Würfe zu wiederholen (Zwillinge...); beim Spiel vorrangig auf einen natürlichen und effizienten Bewegungsablauf zu achten (Bewegungorientierung / Der richtige Schwung); es zu vermeiden, Erfolge eigens bewirken zu wollen (Kunst des Weglassens); das Spiel überhaupt strategischer und entwicklungsorientierter – also langfristiger– auszurichten.

 

Beide Sichtweisen halbwegs miteinander zu versöhnen, ist eine immerwährende Herausforderung für den Spieler. 

 

 

Ergänzung 1: Dem Kairos sind in allegorischen Darstellungen typische Attribute beigegeben: Ein das Gesicht bedeckender Haarschopf soll es erschweren, die sich nähernde günstige Gelegenheit rechtzeitig zu erkennen. Ein geschorener Hinterkopf soll daran hindern, diese zu ergreifen, wenn sie einmal vorübergezogen ist [siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Kairos]. In dem Artikel "Vom Umgang mit wechselndem Glück" aus dem Boulelexikon, taucht ein ähnliches Sinnbild auf, das von Machiavelli verwendet wurde. Wie dort näher ausgeführt, ist die "Occassione" – also die Gelegenheit – in seinem Werk einer von mehreren zentralen Begriffen. Vergl.: https://de.wikipedia.org/wiki/Niccol%C3%B2_Machiavelli – siehe dort den Abschnitt: VIRTÙ, FORTUNA, AMBIZIONE, NECESSITÀ UND OCCASIONE.

 

Spekulation: Ist das der Quell unserer Unzufriedenheit, dass wir den Kairos, oder besser: die gute Gelegenheit, immer nur dann als solche sicher zu erkennen vermögen, wenn sie schon vorübergegangen ist? Hadern wir mit uns selbst, weil, wenn wir den besonderen Augenblick erwarten, unser Warten häufig enttäuscht wird?

 

Für die im Boulelexikon propagierte Spielweise ist der Kairos von elementarer Bedeutung, was in dem oben erwähnten Artikel "Vom Umgang mit wechselndem Glück" ausgeführt wird. Weiterhin wird das Thema in dem Artikel "Momentum" behandelt.

 

 

Ergänzung 2: Ein umfangreicher Artikel der Wochenzeitung "Die Zeit" beschäftigt sich mit dem Kairos und spiegelt die Thematik an der Lebenswirklichkeit. Er sei zum Einlesen empfohlen: 

http://www.zeit.de/2013/01/Kairos-Antike-Magische-Moment