Helden und Strategen

- Von zweierlei Bedeutungen des Begriffes "Opfer" -


Bedingung des Heroenthums. — Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind.

Nietzsche,

aus: Menschliches, Allzumenschliches.


Die Beschäftigung mit den Strategemen hat listenreiches Verhalten in Fülle aufgezeigt, das im Pétanque zur Anwendung kommt. Die Alltagserfahrung lehrt jedoch, dass damit der Sieg nicht abonniert ist - im Gegenteil: Der Sieg ist oft bei jenen, die geradlinig und ohne Hintergedanken operieren. Offensichtlich ist Listigkeit nicht zwingend erforderlich, ja manchmal sogar hinderlich. Die beste Finte nützt nichts, wenn die Ausführung misslingt. Eine wenig raffinierte aber gelingende Handlung entfaltet jedoch ihre Wirkung. Sicher spielt dabei auch die Unterschiedlichkeit der Charaktere eine Rolle. Nicht jedes Vorgehen passt zu jedem Spieler. Im Erkennen der eigenen Spielernatur liegt somit eine große Chance. Hierzu muss jedoch zunächst ein spezieller Begriff in den Fokus genommen werden: Das Opfer.

 

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler hat jüngst die Doppeldeutigkeit des Opferbegriffes thematisiert [1]. Wo in anderen Sprachen zwei Begriffe verwendet werden, steht im Deutschen nur ein Ausdruck zur Verfügung. Das Wort "Opfer" ist sowohl im Sinne des sinnlos geopfert werdens deutbar, kann aber auch den Sinn des freiwillig sich aufopferns fassen. Im Englischen wird diese Unterscheidung in dem Wortpaar VICTIM / SACRIFICE deutlicher, was dem Latein zu danken ist.

 

Mit dem Sinn, der den Opferbegriff ausfüllt, werden reale Vorgänge interpretiert. Das kann in Kriegen und Krisen aber auch Spielen geschehen, die wir ja als Realitäts- und Konfliktmodelle auffassen. Ob ein zu bringendes Opfer, also der Verzicht auf ein wertvolles Gut, als passiv, erlitten, willkürlich und sinnlos und somit als "victim" aufgefasst wird, oder als aktiv, bewusst gewählt, und sinnvoll, mithin als "sacrificiell" zu deuten ist, hat erheblichen Einfluss auf die Motivation des Individuums. Ist ein Opfer sinnlos, besteht die Neigung, es zu vermeiden, indem das Risiko minimiert oder der Kampf ganz aufgegeben wird. Ist es sinnvoll, spricht nichts dagegen, den Kampf fortzusetzen, ja, ihn noch zu verstärken. Versteht man das Opfer als "victim", kämpft man schlecht, versteht man es als "sacrificiell", kämpft man gut.

 

In Kriegen sind es Güter und Leben, die geopfert werden. Im Wirtschaftsleben bedeuten Investitionen Verzicht auf den Konsum der eingesetzten Mittel. Auch in Spielen gilt es, auf etwas zu verzichten, um Besseres zu erreichen. Der Spieler verzichtet auf Zeit, die er zum Üben benötigt, im Spiel sind es Anstrengung, Ansehen und Stolz, die zu opfern sind. Für den Ausgang eines Kampfes ist es von wesentlicher Bedeutung, wie eine Person diesen Verzicht interpretiert und das zeigt sich im Opferbegriff.

Um das zu verdeutlichen, betrachten wir zwei idealtypische Spielercharaktere. Zum einen ist das eine Person, deren innere Verfasstheit und Motivationslage wir mit dem Begriff "HELD" beschreiben. Zum anderen ist es ein Akteur, den wir als "STRATEGE" bezeichnen.

 

Der Spielertypus des Helden: Helden sind Personen, die einen Kampf um seiner selbst willen führen, also aus Prinzip. Sie kämpfen nicht, um etwas zu erwerben. Somit geben sie absichtlich mehr, als sie nehmen. Sie agieren faktisch aus einer Position des Reichtums, denn geben kann nur der, der hat. Ökonomische Fragen, in dem Sinne, ob der Aufwand den Ertrag des Sieges rechtfertigt, stellen sich für sie nicht. Sie gehen daher auch nicht prinzipiell den leichteren Weg. Der Held geht brachial vor und sucht den direkten Kampf. Mannschaftliche Krisen kümmern ihn wenig. Unter Druck blüht der Held noch auf, denn es ist seine Natur, die Krise allein zu meistern. Das Versagen der Mitspieler macht ihn zum Retter.

 

Der Spielertypus des Strategen: Strategen sind Personen, die einen Kampf zu einem bestimmten Zweck führen. Sie kämpfen, um etwas zu erreichen bzw. zu erwerben. Sie versuchen daher, mehr zu bekommen, als sie geben müssen. Sie handeln somit aus einer Position des Mangels heraus, den sie zu mildern trachten. Das ökonomische Prinzip ist ihre zweite Natur, ein Kampf wird nur geführt, wenn er sich absehbar lohnt. Da sich alles um ein Kosten-Nutzen-Verhältnis dreht, ist die Suche nach dem leichtesten Weg ihr eigentliches Geschäft. Der Stratege geht daher listig vor und kämpft nur, wenn er muss. Mannschaftliche Krisen können einen negativen Einfluss auf das Handeln des Strategen ausüben. Der Stratege braucht andere Spieler, um zu siegen. Versagen diese, fühlt er sich verraten und empfindet sein Bemühen als verschwendet.

 

In der Geschichte bzw. Literatur begegnet uns diese Unterscheidung beispielsweise in den Personenpaaren Leonidas / Themistokles und Achilles / Odysseus. Leonidas hielt ein persisches Heer auf, indem er in direktem Kampf sich und seine Männer opferte. Themistokles überwand die persische Flotte durch geniale strategische Entscheidungen und eine listenreiche Kriegsführung. Achilles war ein unüberwindlicher Kämpfer, der sich aber in kindlichem Trotz vor Troja einen Kampfstreik leistete. Odysseus errang den Sieg, den Jahre der Mühen nicht erreicht hatten, mit einer unfassbaren List. Wir sehen also, dass Helden trotz Scheiterns in hohem Ansehen stehen, weil sie furios kämpfen. Strategen genießen ein Ansehen, das vom Gesamterfolg abhängt.

 

Wann genau versagen Helden und Strategen und wann haben sie Erfolg?

Der Held ist vor sich selbst gerechtfertigt, wenn er das eigene Ethos erfüllt. Dieses besteht darin, sich unerschrocken der Herausforderung zu stellen. Er bedarf also des Erfolges nicht, um erfolgreich zu sein. Das ist, wenn es um das Gelingen von körperlichem Handeln geht, ein unschätzbarer Vorteil. Der Stratege ist vor sich selbst erst dann gerechtfertigt, wenn sich ein messbarer Erfolg einstellt, wenn der Vergleich von Aufwand und Ertrag positiv ausfällt. Das liegt jedoch nicht allein bei ihm. Je stärker der Gegner, je schwächer die Mitstreiter, desto größer die Gefahr, dass die Rechnung ins Negative umschlägt. So kann der Stratege durch den Kampf die Rechtfertigung verlieren, der Held kann es nicht. Der Held hat somit wenig zu verlieren und alles selbst in der Hand. Der Stratege ist von weiteren Personen abhängig und hat auch mehr zu verlieren.

Gleichwohl kämpft der Held letztlich nur für sich selbst, denn es fällt ihm leicht, das Ganze preiszugeben, wenn nur seinem Ethos genüge getan ist. Der Stratege kämpft hingegen selbstlos, weil er nur Erfolg haben kann, wenn das Ganze gelingt. Der Held ist also tendenziell ein Einzelkämpfer, auch wenn das Gelingen seiner Taten entscheidend zum Teamerfolg beiträgt. Der Stratege ist hingegen ein Teamplayer, der allerdings vor der Herausforderung steht, dass die Sorge um das Ganze nicht die Güte seines Handelns mindert und so dem Team schadet.

 

Ein egoistischer Held kann ein Spiel ebenso ruinieren, wie ein zögerlicher und blockierter Stratege. Über Wohl und Wehe entscheidet in beiden Fällen die richtige Interpretation des Opferbegriffes. Der Held, ohnehin bereit, sich selbst aufzuopfern, muss in der Aufopferung so konsequent sein, dass er niemals dem Teamwohl entgegensteht. Sein Opfer besteht darin, sich zurückzunehmen, wenn es die Gesamtsituation gebietet, einmal nicht der Retter zu sein, auf den Heldennimbus zu verzichten, und die eine, vollkommen unspektakuläre Kugel zu spielen, die das Team gerade so dringend benötigt. Der Stratege muss erkennen, dass er sein Prestige dem Teamwohl opfern muss, will er Erfolg haben. Versagt das Team, so muss er bereit sein, das heldenhaft zu ertragen. Im Kreis stehend, muss der Stratege ein Held sein, außerhalb des Kreises muss der Held ein Stratege sein. Wem es gelingt, in seiner Persönlchkeit und in seiner Spielweise einen der beiden Archetypen zu entdecken, der kann versuchen, im richtigen Moment den jeweils anderen Typus auszufüllen und damit die Mannschaft stärken.

 

Erfolg ist im Pétanque an das Gelingen körperlichen Handelns geknüpft. Helden sind hier im Vorteil, weil sie praktisch nicht verlieren können, gleich wie der Kampf ausgeht. Strategen, die sich um die Gesamtsituation sorgen, scheitern oft deshalb, weil diese Sorge sie Konzentration kostet, was ihr Handeln hemmt. Erfolg ist aber ebenso abhängig von klugen Entscheidungen. Wenn körperliches Handeln gelingt, adeln kluge Entscheidungen das Spiel. Damit beides zur Geltung kommen kann, müssen sowohl der Held als auch der Stratege im entscheidenden Moment über den eigenen Schatten springen. Sie müssen bereit sein, ein OPFER zu bringen.

 

 Thorsten 


Drachen - Obgleich nur ein Mythos, lauern sie doch überall
Drachen - Obgleich nur ein Mythos, lauern sie doch überall

Nachwort: 

Die hier geschilderte Problematik kann beim Lesen von Schillers Ballade: "Der Kampf mit dem Drachen" genussreicher durchdrungen werden: Die Ordensritter des Johanniterordens auf Rhodos, umgeben von ihren osmanischen Feinden, haben es mit einem Drachen zu tun, der enormen Schaden anrichtet. Der Ordensgroßmeister hat den Kampf gegen die Bestie ausdrücklich untersagt, da ihr schon viele Ritter zum Opfer gefallen sind, Opfer, die sich der Orden nicht leisten kann. Dennoch bereitet sich ein junger Ritter akribisch vor, erschlägt den Lindwurm und wird bei seiner Rückkehr von Volk und Ordensbrüdern frenetisch als Held gefeiert. Nicht so vom Oberen des Ordens, der den Heroen brüsk zurechtweist und ihn sogar aus der Gemeinschaft ausschließt. Wohl erkennt er die enorme Tapferkeit und Bravour an, die in der Tat liegt, tadelt jedoch die Disziplinlosigkeit, durch die er die eigentliche Aufgabe der Ordensritter, den Abwehrkampf gegen die Türken, gefährdet sieht. Erst als der Drachentöter durch wortlose Annahme des Urteilsspruches seinen Willen bezeugt, sich in die Gemeinschaft einzufügen, revidiert er sein Verdikt. Der Held ist integriert, das Land vom Untier befreit, die Ordensdisziplin intakt. 


[1] Herfried Münkler

KRIEGSSPLITTER: DIE EVOLUTION DER GEWALT IM 20. UND 21. JAHRHUNDERT

Verlag: Rowohlt Berlin; Auflage: 1 (25. September 2015)

 

Bild: Alter Baum und Efeu in der Rudolfstraße in Braunschweig (leider mittlerweile gefällt)