Zeichnet Kreise!


Seit einigen Jahren breiten sie sich auf den Bouleplätzen aus, die Plastikkreise. Rund und bunt verdrängen sie „Sandritzereien" und Scharrbilder – jene von Spielern geschaffenen Geoglyphen, die einst die Boulodrome schmückten und Zeugnis gaben, ihres Treibens. Nach Auffinden eines der runden Relikte im Park, konnte man sicher sein: Hier haben Menschen gespielt.

Gewiss hat diese Entwicklung auch Vorzüge: So ist denn die einst inflationär gestellte Frage nach dem Ort der Wurfzonenbegrenzer kaum mehr zu hören, was die Nerven der Beteiligten ebenso schont, wie die künstlichen Reifen die Umwelt bewahren helfen. Denn wahre Massen an Mikroplastik – der Abrieb des Schuhwerks der Kreisschnitzer – reicherten sich einst in den Böden der Spielstätten an, der dann, immer elastischer geworden, kaum mehr bespielbar war, was ungezählte Kugeln bezeugten, die bei zu kurz gezielten Schüssen über ihr Ziel sprangen. Soll man also dem Boulegott danken, dass solch finstere Zeiten endlich vorbei sind?

Doch lieber nicht, denn mit dem Triumph der farbigen Ringe stirbt nicht nur ein schöner Brauch. Den Spielern entgeht mit dem Verzicht auf das Zeichnen der Kreise auch ein Ritual, bei dem sie mehr über sich und andere erfahren konnten. Es schwindet eine Gelegenheit zu innerer Sammlung, zur geistigen Vorbereitung auf den entscheidenden Moment – den ersten Wurf.

Zen-Buddhisten malen mit grobem Pinsel und unglaublich viel Tinte Kreissymbole auf Reispapier, denn sie glauben, dass sich in dem Werk der geistige Zustand seines Schöpfers offenbare – je harmonischer die Form, desto „aufgeräumter“ dessen Inneres. Das Tuschen der Kreise muss nämlich in einem Zug vonstattengehen, soll es gelingen. Jedes Zögern macht das Gebilde etwas weniger rund. Ganz so also, wie Zaghaftigkeit und Zweifel auch den Wurf verderben, der ebenfalls seinen Ursprung in einer Kreisbewegung hat. Tuschen und werfen – beides ist Charakterfrage. Ältere Spieler und Puristen wissen, dass gescharrte Wurfkreise vieles über den Spieler verrieten - je amorpher die Struktur, desto konfuser das Spiel, desto unharmonischer die Bewegungen.

Man könnte sich nun in allerlei Symbolik[1] vertiefen. So stellte schon Schopenhauer[2] fest:

Durchgängig und überall ist das echte Symbol der Natur der Kreis, weil er das Schema der Wiederkehr ist: diese ist in der Tat die allgemeinste Form der Natur, welche sie in Allem durchführt, vom Laufe der Gestirne an, bis zum Tod und der Entstehung organischer Wesen, und wodurch allein in dem rastlosen Strom der Zeit und ihres Inhalts doch ein bestehendes Dasein, d. i. eine Natur, möglich wird". [3] 

 

Der Kreis also, ein schönes Symbol dafür, dass auf ein Spiel unweigerlich das nächste folgt.

Für den Zen-Anhänger symbolisiert das Malen eines „Ensō“ - so heißen die getuschten Kreisformen nämlich – den Moment, da das Bewusstsein, von aller Last befreit ist, – im Innern des Kreises existiert nur Leere - ein geistiger Zustand, den Meditierende und Werfende gleichermaßen anstreben[4].

 

Da erschaffene Kreise aber doch niemals gänzlich perfekt werden, erinnern sie ihren Erzeuger an dessen Fehlbarkeit, welch Erkenntnis angesichts immer wieder beobachtbarer Wutausbrüche nach Fehlwürfen, so manchen Spieler ebenso überraschen wird, wie sie ihm gut zu Gesicht stünde. Ein nicht ganz geschlossener Kreis verweist zudem auf das Verbindende von Spiel und eigentlicher Welt, denn unbezweifelbar beeinflussen beide einander wechselseitig.

Die Möglichkeit, sich zu sammeln; tiefe Symbolik; die Gelegenheit unserem Inneren Ausdruck zu verleihen – wollen wir wirklich darauf verzichten? Ziehen wir weiterhin unsere Kreise!  

 

Thorsten


[1] Darin hatte ich mich bereits anlässlich der Gründung unserer Internetseite in einem ersten Artikel versucht: „Vom Kreisen und Kreisen"

[2] Schopenhauer (1788 - 1860) war einer der ersten, die sich in Deutschland intensiv mit den Ideen des Buddhismus beschäftigten. Auszug aus der Wikipedia:

Die Rezeption und Verbreitung des Buddhismus in Deutschland – so schon in den Schriften Richard Wagners – lässt sich auch auf Schopenhauers Wirken zurückführen. Der Philosoph sah in dieser Religion einen Gegenentwurf zur abendländischen Metaphysik und deutete deren Erkenntnisstreben als Mittel, die geistige Isolierung des Individuums zu durchbrechen. Schopenhauer fand zahlreiche Verbindungen zwischen seiner eigenen Philosophie und der buddhistischen Lehre, etwa den Atheismus. Die Indien-Begeisterung vieler damaliger Intellektueller wie auch die ersten Übersetzungen asiatischer Texte wurden durch seine Schriften angeregt.

[3] Aus: Arthur Schopenhauer -  "Die Welt als Wille und Vorstellung II, Band 4, Kapitel 41

[4] Eine Reihe von Beispielen für die in Zen-Tradition erstellten Kreise: https://www.youtube.com/watch?v=VPGIUk-24dk 


Bilder:

Bunte Kreise: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Saturn: Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay 

Stein: Bild von InspiredImages auf Pixabay