Die Weihnachtskrise


Weihnachten und Pétanque

Die Weihnachtsfeiertage - für viele bringen sie Freude, häusliche Einkehr und Besinnlichkeit. Eine Prüfung sind sie hingegen dem Boulespieler, für den eine Zeit des Verzichts und gefährlicher innerer Krisen beginnt, sobald das Jahresende naht. Die dann anschwellende Flut von Zusammenkünften führt nämlich zu ausgedehnten Spielpausen, die bei sensiblen Boulomanen ernste gesundheitliche Irritationen auslösen können.

 

Die populärwissenschaftlich als „Kugelentzug“ und „Unterboulung“ bezeichnete Krankheit sollte in keinem Falle unterschätzt werden. Sie beginnt meist mit unkontrollierten Zuckungen der Gliedmaßen, geht jedoch schnell in Zwangshandlungen und Wahnvorstellungen über. Das Ende ist immer ein Zustand vollständiger Agonie des seines einzigen Lebensinhaltes abrupt beraubten Menschen.

 

Es ist daher sehr wichtig, schon erste Anzeichen dieser Krisis zu erkennen, um möglichst schnell geeignete Gegenmaßnahmen einzuleiten. Im Folgenden sollen daher jene Symptome dargestellt werden, die typischerweise mit der Krankheit einhergehen:

 

1. Schon beim Anprobieren des Weihnachtsmannkostümes fällt der Kränkelnde durch eigenartige Armbewegungen auf, die in anderem Zusammenhang als Ausdruck einer extremistischen Gesinnung zu deuten wären, hier aber lediglich „Santas“ rotes Wams auf seine Hochportée-Eignung testen sollen.

 

2. Der Patient kann an keinem Teller Apfelsinen vorbeigehen, ohne sich durch intensives Betasten, Klarheit über Umfang und Gewicht des kugeligen Obstes zu verschaffen und sich lobend über den einmaligen Grip dieser Südfrüchte zu äußern.

 

3. Nüsse, die man ihm reicht, werden grundsätzlich nicht geknackt, sondern „ausgeworfen“. Zum fassungslosen Entsetzen anwesender Gäste wird anschließend auch noch die Wurfstrecke sorgfältig messend abgeschritten.

 

4. Die Vorbereitung eines Teiges für leckere Weihnachtsplätzchen kann sich endlos lang hinziehen, da der Erkrankte in der ausgerollten Masse zwanghaft nach geeigneten Donées fahndet.

 

5. Mit seiner notorischen Kritik an allenthalben vorhandenen Adventskränzen löst der Patient nachhaltiges Befremden aus. Hierbei ist deren ästhetischer Reiz jedoch vollkommen ohne Belang. Vielmehr werden alle geschmückten Reifen, deren Innendurchmesser nicht zwischen 35 und 50 cm beträgt, als nicht Regelkonform gegeißelt.

 

6. Auch die Harmonie der Festtafel kann erheblich gestört werden, wenn die zur knusprigen Gans gereichte Knödelbeilage den Leidenden zu dem schrillen Ausruf verleitet: “Halt, das muss gemessen werden!“ und er sich erst wieder beruhigen kann, wenn Klarheit herrscht, welches der runden Kartoffelerzeugnisse denn nun „den Punkt hat“.

 

7. Der Zustand vollständiger Agonie ist jedoch gekommen, wenn der Paralysierte angesichts der Christbaumkugeln in stundenlanges Starren verfällt, einzig der Frage nachhängend, welche von ihnen sich denn genau „devant“ befände. Deutet der Betroffene schließlich immerfort auf eines der Schmuckelemente und brabbelt fiebrig: “Die da, die muss geschossen werden!“ ist das Endstadium erreicht.

 

Dringender Rat: Sollten sie eines oder gar mehre dieser Symptome an sich oder anderen bemerken, ist es höchste Zeit zum Handeln. Der Patient sollte umgehend von seinen Pflegern in die Nähe eines geeigneten Boulodromes gebracht und mit Kugeln versehen werden. Schon bald wird ein deutlicher Anstieg der Vitalfunktionen erkennbar sein und die Krisis abebben.

 

Die beschriebenen Zwangshandlungen sind freilich irreversibel, fallen aber in Gemeinschaft mit anderen Patienten nicht weiter auf, wodurch es zuverlässig gelingt, den normalen Teil der Bevölkerung vor jenen schrecklichen Anblicken zu bewahren, die unter Kugelentzug Leidende immer wieder bieten.

 

Thorsten