Durchschießen


Man sagt, die Not verleihe Flügel. Tatsächlich finden wir in Bedrängnis häufig genau dort Auswege, wo wir sonst niemals gesucht hätten. Einmal darauf gestoßen, erweist sich manch unkonventioneller Weg dann als Geschenk, wenn es auch einigen Mutes bedarf, ihn zu beschreiten. Ein solcher Weg ist die Taktik des "Durchschießens".

 

Was ist damit gemeint?

Üblicherweise werden beim Boule Kugeln angegriffen, die legend kaum übertroffen werden können; die so positioniert sind, dass sie sich absehbar störend auswirken müssen; oder um eigene Kugeln zu verteidigen.

Darüber hinaus existiert aber die Option, eine Kugel grundsätzlich anzugreifen, ungeachtet ihrer Nähe zum Cochonnet oder der Existenz einer eigenen Kugel, die zu verteidigen wäre. Hat man einmal erfolgreich damit begonnen, kann es lohnen, auf jede weiterhin gelegte Kugel wiederum mit einem Schuss zu reagieren.

 

Das ist dann der Fall, wenn die angegriffenen Ziele vom Spielfeld entfernt werden, die Schusskugeln jedoch darauf verbleiben. Dann verteidigt nämlich jeder weitere erfolgreiche Schuss diese potentiellen Punkte und es kann sich dabei einiges Aufsummieren [1]. Es leuchtet ein, dass diese Ernte nur eingefahren werden kann, wenn es beim Schießen bleibt, bis der Gegner seine letzte Kugel gespielt hat. Aus diesem Grunde wird diese Taktik auch als "Durchschießen" bezeichnet.

 

Diese mithin etwas "schießwütige" Herangehensweise hat bedenkenswerte Nebeneffekte:

 

Positiv schlägt zu Buche, dass mit der Vielzahl entfernter Kugeln auch die Brisanz aus einer Aufnahme weicht, dem Gegner also die Möglichkeit genommen wird, doch noch einen Coup zu landen, denn das für ihn Zählbare entschwindet mit jedem Treffer. Ferner wird ihm das Spiel diktiert, denn das erfolgreich schießende Team reißt peu á peu die Initiative an sich. Man sollte die psychologische Wirkung des "Durchschießens" durchaus nicht unterschätzen. Wie könnte dem Gegner klarer vor Augen geführt werden, dass, was immer er unternimmt, doch vergeblich sein wird? Wes Spielers Herz begänne da nicht ein wenig zu sinken?

 

Die negativen Aspekte der Taktik des "Durchschießens" zeigen sich in statistischen Überlegungen. Zur Errechnung der Erfolgswahrscheinlichkeit muss der "Multiplikationssatz für unabhängige Ereignisse" [2] herangezogen werden. Danach sind die Einzelwahrscheinlichkeiten für jeden Schuss miteinander zu multiplizieren, um die Gesamtwahrscheinlichkeit zu erhalten. [3]

 

Beispiel: Eine Mannschaft mit einer durchaus beachtlichen Trefferquote von 70 % hätte demnach lediglich eine rund 12 prozentige Erfolgsaussicht, sofern sie sechs Schüsse ins Ziel bringen möchte (0,7 x 0,7 x 0,7 x 0,7 x 0,7 x 0,7 = 0,12). Bessere Tireure mit einer Quote von 90 % dürfen hingegen in 53% der Fälle mit einem erfolgreichen Ausgang rechnen (0,9 x 0,9 x 0,9 x 0,9 x 0,9 x0,9 = 0,53).

 

Beim "Durchschießen" hat man die Statistik vordergründig also nicht auf seiner Seite.

Soll dieses Manöver von Erfolg gekrönt sein, darf eben kein Schuss fehlgehen, während jede irgendwohin gelegte Kugel das Zeug dazu hat, alles zu ruinieren. Nicht grundlos also umweht stets ein Anflug von Bedenklichkeit diese Taktik.

 

Das gilt jedoch nur, solange wenig Hoffnung keimt, Retro oder Carreaux zu erzielen. Tritt ein solches Ereignis ein, verbessern sich die Erfolgsaussichten sogleich erheblich. In hochklassigen Partien ist daher immer wieder zu beobachten, dass Akteure einen Carreau förmlich erwarten und nach einem "normalen" Treffer abwinkend und hadernd den Kreis verlassen. Ihre Taktik ist eben auf das häufige Auftreten dieser Glanzleistungen ausgelegt, auch wenn es den verblüfften Normalspieler befremden mag.

 

Glücklicherweise ist es nicht immer erforderlich, sechs Schüsse in Folge zu setzten, denn hält ein Team mehr Kugeln als der Gegner in Händen, kann es jederzeit beschließen: "Wir schießen auf alles, was noch kommt".

 

Gleichwohl wird sich unter normalen Umständen das "Durchschießen" eher aufgrund der Umstände ergeben und nicht als Standardtaktik fungieren: Meist dann, wenn des Gegners Aktionen Angriffe erfordern, deren Gelingen das Fortfahren lohnen. Unvermittelt erscheint dann der Weg zum Ziel nicht mehr zu weit, ihn auf die einmal gewählte Art zu Ende zu gehen. 

 

Thorsten


[1] Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, was mit Tireurkunst erreichbar ist, zeigt der folgende Film, in dem sechs Punkte "durchschießend" erzielt werden: https://www.youtube.com/watch?v=CRhzOzfzhPI


[2] Schwarze - Grundlagen der Statistik II; Wahrscheinlichkeitsrechnung und induktive Statistik

     2. Auflage 1988; ISBN 3-482-56862-6 ; S. 37


[3] Wie ich kürzlich (Januar 2024) feststellen konnte, hat der bekannte Experte "Pierre Fieux", Journalist, Autor, Petanquespieler und Kommentator, in seinem Buch "La Pétanque de compétition" den Gedanken, das Spiel an den Erfolgswahrscheinlichkeiten auszurichten, mithin also das technische Vermögen und die Tagesform in die Entscheidung, welche Taktik gewählt werde, mit einzubeziehen, ebenfalls dargestellt und anhand eines Beispiels erläutert: " Alle taktischen Entscheidungen, die im Laufe eines Spielverlaufs getroffen werden, erweisen sich nur dann als richtig, wenn die Erfolgswahrscheinlichkeit bei der Ausführung eines Wurfes berücksichtigt wird." Im Lichte dieses Gedankens existiert das "echte" Spiel demzufolge nicht. Wie oft hört man den Satz: "Die Kugel muss geschossen werden!"? Wie oft wird gesagt: "Hier müssen wir legen!"? Was immer wir wählen, am Ende muss uns die Ausführung auch noch gelingen. Das gilt es, zu bedenken.

Wie stets, wenn dieses Thema gestreift wird, füge ich allerdings auch hier hinzu, dass man eben genau das üben muss, was nicht gut beherrscht wird. Auch im Punktspiel muss man sich an bestimmte Abläufe erst gewöhnen, muss die Erfahrung machen, was es heißt und wie es sich anfühlt, bereits zweimal in der Aufnahme getroffen zu haben, diese Leistung aber nur mit einem weiteren Treffer zur "Heldentat" krönen zu können. Es muss und wird erst vielfach schiefgehen, bis es dann schließlich gelingt. Darum gilt es, stets zu erwägen, ob man mit bewährter Taktik gerade dieses Spiel unbedingt gewinnen will oder im Einüben einer unsicheren Variante den Samen für künftiges Gelingen zu legen gedenkt.

Die angesprochene Passage ist online verfügbar. Sie findet sich in "Pierre Fieux" - WETTKAMPFPÉTANQUE, unter der Überschrift: "Das Spiel nach Prozenten", siehe: https://boulebiebertal.de/technik-taktik-etc/


Ergänzung: Die beschriebene Taktik ist ein "Balancieren ohne Sicherungsnetz". Es sei hier folgende Aussage über die Natur des Angriffs beigefügt: "Der Erfolg des Angriffs ist das Resultat einer vorhandenen Überlegenheit, wohlverstanden: physische und moralische Kräfte zusammengenommen."  Nur wenn Können und Moral sich gleichermaßen auf einem Höhepunkt befinden, ist ein Erfolg zu erwarten.

Siehe: Carl von Clausewitz - Vom Kriege -

Der Angriff: Fünftes Kapitel

- Kulminationspunkt des Angriffs -


Dieser Artikel steht mit folgenden Texten in inhaltlichem Zusammenhang: Zwei Schüsse; Reduzieren.


Bild von René Schindler auf Pixabay