Entscheidungen


Beim Pétanque sind ständig Entscheidungen zu treffen. Der Einzelner hat ständig zwischen Handlungsoptionen zu wählen und auch die Mannschaft muss kollektiv entscheiden - oder es muss für sie entschieden werden. Es lohnt sich, die Natur dieser Aufgabe einmal genauer zu betrachten.

 

In einem seiner sehr lesenswerten Essays schreibt der Pétanquelehrer Jürgen (Joppo) Albers, dass in einer Partie zwischen 80% und 90% der Situationen so eindeutig sind, dass sie von erfahrenen Spielern leicht gedeutet werden können. Für die restlichen Situationen nimmt er an, dass es zu 80% bis 90% gleichgültig ist, ob geschossen oder gelegt wird, vorausgesetzt die gewählte Aktion gelingt. (siehe: http://bouleaufer.de/Essay2.php)

 

Was steckt hinter dieser Aussage, die ein Plädoyer gegen langes Lamentieren und Abwägen ist?

Wohin?
Wohin?

Man muss erkennen, dass eine lange Suche nach der optimalen Lösung, der späteren Ausführung im Wege stehen kann. Möglicherweise finden wir nach einiger Zeit einen Weg, der dem Optimum sehr nahekommt, haben uns und die Mannschaft aber durch die lange Dauer der Entscheidungsfindung unter Betrachtung jedweder auch nur irgend denkbaren Möglichkeit derart verunsichert und aufgerieben, dass die Umsetzung misslingt. Auf die Ausführung des Planes kommt es aber letztlich an. Ein schöner Plan allein hat noch nie einen Punkt gebracht.

Natürlich ist eine guter Plan besser als ein schlechter. Wichtiger ist es aber, sich die eigene Entschlossenheit zu bewahren. Die hier aufgestellte These lautet also wie folgt: 

 

Die schnelle Entscheidungsfindung ist die Hauptbedingung, die es uneingeschränkt zu erfüllen gilt. Die Güte der Entscheidung ist eine Nebenbedingung, die es zu maximieren gilt, sofern dieses nicht der Hauptbedingung im Wege steht.

 

In einem alten "Kodex der Samurai" dem „HAGAKURE[1], das zwischen 1710 und 1716 in Japan verfasst wurde, findet sich hierzu eine interessante Passage:

 

"In einem Sprichwort der Altvorderen heißt es: »Erwäge und entscheide alles in einem Zeitraum von sieben Atemzügen

Fürst Ryüzōji Takanobu sagte: »Wenn man lange Zeit nicht seinen Verstand gebraucht, verfault er

Fürst Naoshige sagte: »Für alle Dinge gilt, dass von zehn Dingen, die sich schleppend und zähe dahinziehen, sieben schlecht sind. Krieger müssen in allen Dingen schnell und rasch handeln.« Sind Geist und Gefühle nicht entspannt und beruhigt, wird man ohne Mühe auch keine Entscheidungen fällen können. Befindet man sich in einer unbefangenen, klaren und kraftvollen Gefühlslage, kann man auch in einem Zeitraum von nur sieben Atemzügen eine gute Entscheidung fällen. Das ist eine Gefühlslage, in der man sich erfrischt und wohl fühlt, weil man einen festen Entschluss gefasst hat."[2]

 

 

Von Kriegern wird erwartet, innerhalb von sieben Atemzügen zu brauchbaren Entscheidung zu kommen und dann entschlossen zu handeln, weil die Umstände des Gefechtes keine längere Planung zulassen. Mehr noch, die schnelle Beendigung der Entscheidungsphase ist überhaupt die Voraussetzung für erfolgreiches Handeln. Zögerlichkeit und Verunsicherung hätten ernsteste Konsequenzen.

 

Wie wir gleich sehen werden, führt aber das Streben nach schnellen Entscheidungen implizit auch dazu, die Qualität der Entscheidungen zu verbessern. Darüber hinaus geht von schnellen Entscheidungen eine nicht zu vernachlässigende psychologische Wirkung aus. Sie strahlen Sicherheit aus, was Mitspieler und Gegner beeinflusst.

 

Wie kann man es erreichen, schnelle Entscheidungen zu treffen die noch eine brauchbare Qualität aufweisen? 

Auch hierzu findet sich im „HAGAKURE“« eine interessante Stelle:

 

Dinge von großer Bedeutung sollen gelassen angegangen werden!

Eine Regel, die von Fürst Naoshige in dem „Schreiben an der Mauer“ hinterlassen wurde, liest sich so: „Dinge von großer Bedeutung sollten gelassen angegangen werden. “Ittei sagt in seinem Vorwort zu dieser Regel: „Dinge von geringer Bedeutung sollten ernsthaft angegangen werden.“

Angelegenheiten von großer Bedeutung darf es nur so viele geben, wie täglich nach Antworten darauf gesucht werden kann. Diese Regel scheint mir zu raten, Entscheidungen bei ernsten Angelegenheiten im voraus wohl zu formulieren und dann leicht den Entschluß zu fällen, wenn man der ernsten Sache gegenübersteht. Wenn andererseits jemand keine täglichen Entscheidungen fällt, kann ein Entschluß nur schwer an Ort und Stelle geschehen, so daß jemand leicht versagen kann. Ich denke also, tägliche Entschlüsse sind die Grundlage für des Fürsten Vorschrift: „Dinge von großer Bedeutung sollten gelassen angegangen werden.“

 

Wie man sieht, ist auch hier das stetige Einüben der Schlüssel zum Erfolg. Wer jedem Spiel die selbe hohe Aufmerksamkeit widmet, wer beständig mitdenkt und erwägt, dem wird es leicht fallen, zu Entscheidungen zu kommen. Dem Anfänger sei geraten, die Spielsituationen für sich selbst beständig zu analysieren und zu hinterfragen und das auch dann, wenn erfahrenere Spieler den Kurs festlegen.

 

Im Lichte dieser Erkenntnisse gibt es keine unwichtigen Spiele:

Die Ernsthaftigkeit mit der man die sogenannten „unwichtigen“ Spiele betreibt, bildet die Grundlage für die Lockerheit, derer man bei den sogenannten „wichtigen“ Spielen bedarf.

 

Eine Pétanquepartie ist eine Situation die Gemeinsamkeiten mit der eines Gefechtes aufweist. Natürlich gilt das nur für die Problemstellung, nicht aber für die Konsequenzen: Entscheidungen müssen unter Druck und in Zeitnot getroffen werden. Die eigene Moral und die der Mitstreiter muss dabei erhalten bleiben. In diesen Situationen birgt schnelles und entschlossenes Handeln fast immer Vorteile.

 

 

Thorsten


 Nachtrag: Interessanterweise vergeht innerhalb von sieben Atemzügen je nach Frequenz ca. eine halbe Minute. Das ist genau die Hälfte der Zeit, die einem Spieler in einem Turnier zur Verfügung steht, um zur Ausführung zu kommen.


[1] Zum Hagakure: (Es ist nicht möglich, an dieser Stelle auf die Hintergründe des Werkes einzugehen. Wer sich näher damit befassen möchte, findet hier einen Einstieg:  http://de.wikipedia.org/wiki/Hagakure 

 

Dem Verfasser des „HAGAKURE“ war es ein Anliegen, die alte Kampfphilosophie der Samurai, die er vom Verfall bedroht sah, schriftlich zu bewahren. Er gelangte dabei zu tiefen Einsichten hinsichtlich der Natur des Kampfes, die universelle Gültigkeit besitzen. Wir wollen versuchen davon zu profitieren und greifen auch in anderen Beiträgen darauf zurück.

[2] Hagakure (Reclam Bibliothek) Gebundene Ausgabe – 2009 S. 153 

Anmerkung: In einer älteren Version dieses Aufsatzes hatte ich das Zitat einer verbreiteten Übersetzung des Hagakure entnommen, die prägnanter formuliert, aber vermutlich weniger Werkgetreu ist. Das Zitat lautet da, wie folgt: 

 

"Ein altes Sprichwort lautet: „Denke scharf nach und entscheide innerhalb von sieben Atemzügen.“ Fürst Takanobu kommentierte einmal: „Langes Überlegen stumpft den scharfen Rand einer Entscheidung ab. „Fürst Naoshige wurde so vernommen: „In sieben von zehn Fällen stellen sich die Dinge, die zögerlich ausgeführt wurden, als falsch heraus. Von einem Samurai wird schnelles Handeln erwartet bei allem, was er in Angriff nimmt.“

 

Ein verwirrter Geist führt zu keiner klaren Entscheidung. Ein Mann ohne nagenden Zweifel, von frischem und hohem Geist, kann innerhalb von sieben Atemzügen zu einer Entscheidung kommen. Geistesgegenwärtig muß man entschlossen eine Entscheidung treffen."

 


Ergänzung:  

 

„Die Situation liefert einen Hinweisreiz (cue); dieser Hinweisreiz gibt dem Experten Zugang zu Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind, und diese Informationen geben ihm die Antwort. Intuition ist nicht mehr und nicht weniger als Wiedererkennen.“

                                                                                                             Herbert Simons

 

Entlang dieser These Untersucht Nobelpreisträger Daniel Kahneman das Phänomen der Intuition. Warum liegen Schachspieler, Feuerwehrmänner und Ärzte mit ihren Intuitionen häufig erstaunlich richtig, was sie in die Lage versetzt, schnelle Entscheidungen zu treffen? Warum liegen Börsenprognostiker und Politikexperten mit ihren Prognosen häufig falsch?

 

Um sich Expertise zu erwerben, die zu schnellem Handeln führt, bedarf es zweierlei:

- Einer Umgebung, die hinreichend regelmäßig ist, um vorhersagbar zu sein

- Einer Gelegenheit, diese Regelmäßigkeiten durch langjährige Übung zu erlernen

 

Ist beides gegeben – und das ist im Pétanque der Fall – dann ist es dem Aufmerksamen möglich, das Spiel zu lesen und auf fast magische Weise zu schnellen Entscheidungen zu kommen, denen er und seine Mitstreiter vertrauen können. Geschehen jedoch viele Zufallsereignisse, was durch steinige Böden oder bestimmte Spielweisen (raffeln) begünstigt wird, so wird die Situation tendenziell unvorhersehbar, die Expertise ist dann entwertet. Sobald man also auf wenig bekannte Gegebenheiten trifft, sobald Gegner sich unkonventioneller Spielweisen bedienen, ist Vorsicht geboten. Man hat dann Anlass, der eigenen Intuition zu misstrauen und tut gut daran, die kommenden Schritte gründlicher zu durchdenken.   (Siehe : Daniel Kahneman – Schnelles Denken, langsames Denken – Penguin Verlag (15. Aufl.) - Intuitionen und Formeln (S.275ff)

Auch ein Artikel der "Zeit" bescheinigt "Bauchentscheidungen" eine Qualität, die man ihnen gemeinhin nicht zutraut: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2006/02/Gefuehle_Titel?utm_referrer=https%3A%2F%2Fde.wikipedia.org%2F  


Bild: Im Barnbruch nahe der Sülfelder Schleuse