Dionysos und Apollon spielen Pétanque


Sie sind Pétanquespieler? Dann kennen Sie sicher folgendes Phänomen? Sie spielen gegen Profis und das außerordentlich gut, nein exzellent, zumindest weit über Ihrem gewohnten Leistungsstand. Ihnen gelingen die schwierigsten Würfe; mühelos wird der Gegner besiegt, der sich daraufhin Asche auf sein Haupt streut, und lautstark sein Schicksal beklagt, was Ihren ohnehin schon manischen Gemütszustand weiter beflügelt und – nebenbei gesagt – leichte Zweifel an des Gegners wirklicher Professionalität weckt. In der festen Absicht, an der nächsten Weltmeisterschaft teilzunehmen und diese auch zu gewinnen, verlassen Sie das Boulodrome.

 

Da die Weltmeisterschaft leider erst vor kurzem ausgetragen wurde, beabsichtigen Sie, Ihre Leistung am kommenden Spieltag auf dem heimischen Bouleplatz zu bestätigen. Leider finden Sie dort nur absolute Anfänger vor und beschließen, diesen eine Lehrstunde zu erteilen. Der Gott des Pétanque hat aber anderes mit Ihnen vor und auf solche Dünkelhaftigkeit nur gewartet. Die Anfänger spielen außerordentlich gut, nein exzellent, zumindest weit über ihrem erwarteten Leistungsstand. Natürlich sind Sie davon irritiert und nun versagen Sie auf ganzer Linie. Die einfachsten Würfe misslingen. Sie spielen plötzlich mit dem Feingefühl eines volltrunkenen Grobmotorikers, dessen Hände in seitenverkehrt getragenen Boxhandschuhen stecken, die zusätzlich noch mehrere Nummern zu groß sind. Tief gedemütigt verlassen Sie den Ort der Schande und versenken Ihre Kugeln im nächsten Fluss. (Zum Glück ist der Fluss flach und Sie finden sie später wieder).

 

Nachts quälen Sie Fieberträume; da flüstert Ihnen plötzlich der Boulegott eine Weisheit ins Ohr, die Sie sich merken:

 

“Die Qualität eines Spielers zeigt sich nicht darin, wie hoch er in seinen besten Momenten zu steigen vermag, sondern wie tief er in seinen schlechtesten Momenten fällt.“

 

"Da ist etwas dran", denken Sie sich, wollen aber - lästerlicherweise – auch den Grund dafür erfahren. Die Begegnung mit dem Boulegott und ein lange zurückliegendes Interesse für Friedrich Nietzsche, bringen Sie auf einen Gedanken, der als Erklärung dienen könnte. Zumindest ist er hinreichend exzentrisch sie beschließen zu lassen, ihm weiter nachzugehen:

 

Nietzsche, so erinnern Sie sich dunkel, unterschied, in Anlehnung an die Charaktereigenschaften der Götter "Apollon" und "Dionysos", zwei Prinzipien, indem er dem "APOLLINISCHEN" das "DIONYSISCHE" gegenüberstellte. Kurz gesagt ist mit dem "Apollinischen Prinzip" ein rationales, akribisches, wissenschaftliches und systematisches Vorgehen beschrieben, während das "Dionysische Prinzip" durch rauschhaftes, spontanes, gefühlsbetontes, irrationales und unbewusstes Verhalten gekennzeichnet ist. Sehr verkürzt könnte man sagen: Intellekt contra Instinkt.

Ihnen dämmert sofort - denn nächtliche Besuche des Boulegottes wirken sehr inspirierend - dass beide Verhaltensprinzipien gleichermaßen zum Spielerfolg beitragen können. So bildet das "Apollinische" die Grundlage von allem. Man übt systematisch und erwirbt die Fertigkeiten, die im Spiel vonnöten sind. Man analysiert die Spielsituation und handelt nach bestimmten Regeln. Der Verstand steht auf der Brücke und hat das Kommando.

 

Es liegt auf der Hand, dass Anfänger hier Defizite aufweisen. Wie kommt es aber, dass sie dennoch in der Lage sind, erstaunlich gut zu spielen? Die Antwort liefert das zweite, das "Dionysische Prinzip". Offensichtlich bietet es einen besseren Zugang zu motorischen Vorgängen, als die Ratio es vermag. Die Menschen, oder besser gesagt ihre Vorfahren, waren auf eine perfekte Motorik angewiesen, lange bevor sie ihre intellektuellen Fähigkeiten entwickeln konnten. "Wenn der Tiger um die Ecke biegt, dann frage nicht, welcher Gattung er angehört, sondern erklimm schnell die nächste Palme!"

Da Anfänger häufig nicht wissen, worauf es genau ankommt, müssen sie auch nichts planen. So können sie sich dem Spiel ganz hingeben, handeln unverkrampft und verfügen so über die gute Motorik unserer Ahnen - ein paradiesischer Urzustand. Sobald sie aber beginnen nachzudenken und sich ambitioniert bemühen, verlieren sie ihre dionysische Lockerheit. Zum Tempel des Apoll freilich, der einzig nun helfen könnte, ist es dann noch weit. (Aus naheliegenden Gründen wollen wir es hier vermeiden, die Analogien zwischen Vormenschen und Boulespielern weiter auszuführen, obwohl hierzu noch einiges zu sagen wäre.)

 

Auch Bouleveteranen werden gelegentlich die Geschenke des Dionysos zuteil. Sind Rotwein oder andere anregende Substanzen einmal nicht der Grund für diesen Zustand, so wird er als „Flow“ bezeichnet. Doch leider, diese Geschenke sind nicht von Dauer und die Rechnung wird präsentiert, sobald der Rausch verfliegt. Im Schweiße seines Angesichts muss man sich dann jene Früchte mühevoll erarbeiten, die einst an jedem Baum hingen. Die Lockerheit ist dann dahin - tschüss Paradies.

 

Wirklich guten Spielern gelingt es, beide Prinzipien in Einklang zu bringen. Sie lassen den Verstand die nötige Arbeit tun, schicken ihn aber im rechten Moment in die Pause. Sie können sich stets Rat beim Tempel des Apollon holen und werden so vor tiefem Fall bewahrt. So abgesichert, können sie immer wieder dem Dionysos huldigen und sich zu Höhenflügen aufschwingen. Dank Apollon sind sie weise genug zu wissen, dass diese nie lange andauern werden.

 

Wenn Sie also nächstens wieder einmal spielen wie ein "Plastinat" auf Urlaub, dann gehen Sie die Dinge doch einfach polytheistischer an. Huldigen sie beiden Göttern! Pflegen sie ruhig ihren Intellekt aber lassen sie die Instinkte nicht verkümmern. Seien sie rauschhaft und spontan aber behalten Sie jene Ratio bei, die Sie zur Krone der Schöpfung macht.

Sollte Ihnen das einmal nicht gelingen, hier noch ein guter Rat: Vermeiden sie Spiele in der Nähe allzu tiefer Flüsse.

 

Thorsten