Brisanz


Als Alfred Nobel vor rund 150 Jahren Nitroglyzerin und Kieselgur mischte, stellte er damit den ersten handhabungssicheren Sprengstoff der Moderne her. Er hatte der hochempfindlichen Substanz einen Teil ihrer Brisanz genommen [1]. Gefährliche Stoffe, in Sonderheit solche, die mit einiger Sprengkraft versehen, in der Lage sind, Kettenreaktionen auszulösen, lagert man dennoch besser in ausreichendem Abstand zueinander – je größer die Entfernung, desto geringer die Gefahr. Natürlich findet sich auch im Pétanque hierzu eine Entsprechung, der nun nachgegangen werden soll.

 

Geht es im Spiel darum, ob als nächstes lieber zu legen oder zu schießen sei, hängt das zunächst von der sich darbietenden taktischen Situation ab. Häufig ist beides möglich und nicht klar erkennbar, welcher der Optionen der Vorzug gebühren soll. Leicht übersehen wird dann, dass es ein strategisches Argument [2] gibt, das, von der konkreten Situation unabhängig, eine Entscheidungshilfe darstellt:

 

Erfolgreiche Schüsse bewirken nämlich, dass sich ungeachtet ihrer sonstigen Wirkungen, weniger gegnerische Kugeln auf dem Spielfeld ansammeln. Gleich also, was in der Aufnahme noch geschehen mag [3], nach erfolgreichem Schießen verringert sich die Zahl der für den Gegner zu erzielenden Punkte. Wenn man so will, nimmt das Schießen die Brisanz aus einer Aufnahme.

 

Spieler, die häufiger einmal beklagen müssen, dass der Gegner gleichsam "aus dem Nichts" 5 Punkte gemacht habe, sollten sich befragen, ob es sich dabei wirklich nur um Pech handelt, oder ob sie nicht vielmehr durch ihr eigenes Vorgehen ein zu brisantes Kugelgemisch angerührt haben, dass ihnen schließlich um die Ohren geflogen ist.

 

Wer übermäßiger Risiken eher abhold ist, irrt in dem Glauben, diese durch legen verringern zu können [4]. Das wird offenbar, sobald der Gegner in der Lage ist, viele Carreaux zu schießen. Jede gelegte Kugel bietet ihm dann eine weitere Möglichkeit; jeder weitere Carreau lässt es verlockend erscheinen, den "Jackpot" durch weitere Schüsse zu mehren und schließlich für sich zu gewinnen. Teams mit dieser Fähigkeit sind meist nur zu stoppen, indem erfolgreich "gegengeschossen" wird. Zwingt man die Cracks zum Legen, ist das schon ein kleiner Sieg.

 

Wenn hier also abermals [5] dafür plädiert wird, das Spiel ganzheitlich zu sehen, es sowohl aus der Perspektive des Pointeurs, als auch aus der des Tireurs zu betrachten, geschieht das, um nicht in jene Sackgasse zu geraten, die eine reine Konzentration auf das Legen darstellt. Das Legen ist die Seele des Pétanque, die Basis aller Partien, und doch kommt es dahin, dass diese Waffe im Gebrauch schließlich stumpf wird und sich gar gegen denjenigen kehrt, der sie im Übermaß führt.

 

Thorsten


[1] Der Filmklassiker "Lohn der Angst" setzt die Brisanz des gefährlichen Stoffes gekonnt in Bildsprache um. Wenn es dem Spieler gelingt, das prinzipielle und daher übermäßige Legen, das in diesem Artikel thematisiert wird, irgendwie mit dem dort geschilderten nervenaufreibenden Transport des Sprengstoffes zu assoziieren, wird sich dabei künftig unwillkürlich jenes Unbehagen einstellen, das diese Taktik stets begleiten sollte. In der Tat kann jede auf dem Feld verbleibende Gegnerkugel als Sprengstoff aufgefasst werden, mit dem die Reise gen Ziel sich als recht gefährlich erweist.

[2] Der Unterscheidung von Strategie und Taktik kommt beim Pétanque und natürlich auch im "Boulelexikon" große Bedeutung zu. Siehe hierzu: "Strategie, das unbekannte Wesen" und "Die Bedeutung der Strategie".

 

[3]  Denken wir beispielsweise nur einmal an die Veränderung der Cochonnetlage (Sauziehen).

 

[4] Bei dieser Argumentation wird freilich davon ausgegangen, dass die jeweilige Handlung gelingt. Dass von Schüssen häufig abgesehen wird, weil deren Erfolgsaussichten als zu gering beurteilt werden, ist ein anderer Punkt. Selbstverständlich erhöhen Fehlschüsse das Risiko. Ebenso verhält es sich aber mit verlegten Kugeln.

[5] Dem Leser des Boulelexikon wird auffallen, dass bereits ein anderer Artikel dieses Thema behandelt: Siehe: "Gefährliche Ballungen". Wenn es hier wieder aufgegriffen wurde, geschah das aus der Idee heraus, das Thema aus strategischer Perspektive zu erörtern. Denn was vielen, die noch am Anfang stehen, verborgen bleibt, ist der Umstand, dass sich die Notwendigkeit zum Schuss nahezu prinzipiell ergibt. Sie liegt tief in des Spieles innerer Mechanik begründet.


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