Schweizer Taschenmesser


Ein Schweizer Taschenmesser ist ein Werkzeug zur Bewältigung vielfältiger Aufgaben. Schneiden, Dosen öffnen, schrauben, entkorken, sägen etc. - alles ist möglich. Zwar sind Werkzeuge, die speziell für die jeweiligen Tätigkeiten konstruiert wurden, geeigneter, man hat sie jedoch selten dabei, wenn sie gebraucht werden. Das Schweizer Messer ist hingegen ein treuer Begleiter; wird es benötigt, genügt ein Handgriff und es kommt zum Einsatz, denn es muss nicht lang überlegt werden, wo es sich befindet.

Ein starker Stamm strukturiert das Gezweig. Denkt man ihn weg, bilden die Äste ein wirres Dickicht.
Ein starker Stamm strukturiert das Gezweig. Denkt man ihn weg, bilden die Äste ein wirres Dickicht.

 

Das Schweizer Messer stellt auch ein Prinzip dar. Ein Ding dient vielen Zwecken, verschiedene Aufgaben werden durch Variation des Einen bewältigt[1]. Diesem Prinzip sollte auch der Pétanquespieler nacheifern, wenn es darum geht, wie Würfe grundsätzlich anzulegen sind. Ein Boulespieler muss immer gewahr sein, dass ein Spiel aus Legen und Schießen besteht. Zwar spezialisieren sich die Spieler innerhalb einer Mannschaft; auf lange Sicht gilt es aber, beide Disziplinen zu beherrschen. In hochklassigen Teams wird - je nach Situation - von allen Spielern gelegt und geschossen, sodass kaum mehr erkennbar ist, wer eigentlich Leger und wer Schütze ist. Selbst wenn es lediglich um das Legen geht, erfordern wechselnde Bodenverhältnisse [2] eine effiziente Variation der "Werkzeuge" - also der unterschiedlichen Wurfvarianten.

 

Hierbei sind nun jene Spieler im Vorteil, deren Wurf sich beim Legen nicht grundsätzlich vom Schießen unterscheidet. Die also hie wie dort den Arm langgestreckt und locker schwingen, den Handrücken waagerecht halten, die Finger nicht spreizen und die Kugel so spät loslassen, dass sie in einem ausgeprägten Bogen ihrem Ziele zustrebt, wobei durch Abrollen an den Fingern ein stabilisierender Rückdrall entsteht. Denn diese Wurfweise lässt sich zu fast allen Zwecken gebrauchen, indem sie jeweils nur leicht variiert wird. Sie ist das "Schweizer Messer" des Pétanque.

 

Wird in beschriebener Weise ein Donnée in halber Reichweite gesucht, so spricht man vom DEMI-PORTÉE. Wird der Bogen steiler und das Donnée weiter Richtung Schwein verschoben, wandelt sich der Wurf zum HOCH-PORTÉE ohne seinen grundsätzlichen Charakter zu verändern. Ein HOCH-PORTÉE, das der Kugel zu viel Geschwindigkeit belässt, ist bereits ein Schuss nach der Methode TIR-DEVANT. Mit etwas verminderter Geschwindigkeit können Kugeln auf diese Weise leicht verschoben werden. Ein TIR-DEVANT, bei dem das Ziel etwas nach hinten versetzt wird, ist ein Schuss AU-FER. So kann ein Spieler das gesamte Spektrum abdecken und verändert letztlich immer nur den Wurfwinkel.

 

Auf lange Sicht bringt das einen enormen Vorteil. Während ein Spieler legt, trainiert er auf diese Weise immer zu einem Teil den Schuss und vice versa. Ein Spieler, der zum Legen und Schießen vollkommen unterschiedliche, ja inkompatible Techniken einsetzt, verzichtet auf diesen Vorteil. Nach dem eingangs geschaffenen Bild ist er gezwungen, stets einen Werkzeugkoffer mit unterschiedlichen Geräten mit sich zu führen, dessen Last er auf die Dauer zu spüren bekommt. Diese "Geräte" können zweifellos gute Dienste leisten, hemmen den Spieler jedoch durch ihr "Gewicht". Es sind zu viele, um schnell vorwärts zu kommen. Zudem sind sie häufig an örtlich vorherrschende Verhältnisse angepasst und taugen wenig, wenn diese sich ändern. Das "Schweizer Messer" begleitet hingegen den Wanderer zu allen Bouleplätzen, die er ansteuern mag und gibt ihm die Gewissheit, für jedes Problem eine Lösung im Gepäck zu haben.

 

Thorsten


[1] Ergänzung:

Ein Schweizer Taschenmesser verkörpert das Prinzip "MULTUM IN PARVO" - Vieles in Wenigem. Vor seiner Entwicklung gab es jedoch Instrumente ähnlicher Art. Darauf weist eine Textstelle in Herman Mellvilles "Moby Dick" hin. Dort wird in Kapitel 107 der Schiffszimmermann mit einem dieser Werkzeuge verglichen: "Er glich den nicht selbst denkenden, aber höchst sinnreich erdachten und vielseitig verwendbaren Werkzeugen aus Sheffield, die, multum in parvo, wie ein - nur ein wenig angeschwollenes - gewöhnliches Taschenmesser aussehen, jedoch nicht bloß Klingen jeder Form enthalten, sondern auch Schraubenzieher, Propfenzieher, Pinzetten, Ahlen, Schreibgerät, Lineale, Nagelfeilen und Bohrer."

 

Die ausführliche Charakterzeichnung des Zimmermannes der "Pequod" ist interessant, weil darin ein Gegensatz herausgearbeitet ist, der im Boulelexikon an vielen Stellen eine Rolle spielt - der zwischen Handeln und Denken.

 

Nach einer ausführlichen Schilderung der umfangreichen handwerklichen Fertigkeiten des Zimmermannes - die man gelesen haben sollte, um das Kommende nicht zu negativ zu deuten - stellt der Erzähler fest: "...der Hauptzug seines Wesens war eine gewisse unpersönliche Stumpfheit und geistige Starre, unpersönlich, sage ich, weil sie so völlig aufging in der Unendlichkeit der Dinge ringsum, daß sie eins schien mit der fühllosen Starre der ganzen sichtbaren Welt, die zwar ohne Unterlaß vielfältig schafft und wirkt, aber ewig stumm und starr ist und euer nicht achtet, grübet ihr auch Fundamente für Kathedralen." Weiter unten heißt es: "Er war ein Wesen ganz ohne Herzblut, ein sich selbst genügendes Ganzes ohne Bruch, unbeschrieben wie ein neugeborenes Kind: er lebte dahin ohne bewusste und gefühlte Beziehung zu unserer Welt oder zu der anderen." und weiter: "Er war nichts als Hand; sein Gehirn, wenn er jemals eines gehabt, mußte schon in seinen jungen Jahren in die Fingermuskeln hinuntergesickert sein."

 

Der Zimmermann verkörpert einen Zustand, der an vielen Lexikonstellen als dem Handeln förderlich erachtet wird, ganz ohne Affekte, gleichgültig, ohne eigene Ziele, dabei - und daher - höchst flexibel, stoisch das Kommende bewältigend. Und doch kann das nicht alles sein: "So war dieser Zimmermann in allen Sätteln gerecht - und dabei gleichgültig und ohne Ehrfurcht in all seinem Tun..." denn "Fast könnte man sagen, dieses sonderbare Unbeschriebensein bedeute eine Art Beschränktheit...". Diese Beschränktheit zwar für einen kurzen aber entscheidenden Moment des Handelns künstlich herbeizuführen, ohne sich in ihr bequem einzurichten, darin liegt das Geheimnis der Spielkunst. Das Aufraffen und Überwinden der ziellosen Gleichgültigkeit verlangt freilich einen Preis, der in kostbarer Münze beglichen wird: Seelenruhe.

Thorsten


[2] Bei Turnieren reichen häufig die üblichen Spielfelder der Boulodrome nicht aus. Die Teilnehmerzahl erfordert es, dass auf Wege, die Rotaschebahn, oder gar den Parkplatz ausgewichen wird. Haben Spieler dann auf einem Boden erfolgreich gespielt, sind sie selten der Nachricht froh, das nächste Spiel auf gänzlich anderem Grund absolvieren zu müssen. Die zu langsam bewältigte Anpassung ist dann der Grund für ein ebenso frühes wie unnötiges Ausscheiden. Die Bedeutung dieser Aufgabe kann kaum überschätzt werden. Das hier dargelegte Prinzip ist geeignet, sie erheblich zu erleichtern.  


Bild: Winterliche Eiche nahe Schapen


Bringt die originale Textstelle und enthält weiterführende Links zur Historie der beschriebenen Messer:

http://mleddy.blogspot.de/2015/07/a-sheffield-contrivance.html