Postfaktisches Pétanque


Die jüngsten Ergebnisse von Volksbefragungen und Wahlen lassen jene, die sich gewerbsmäßig mit deren Vorhersage befassen, ratlos zurück und das Zwielicht ihrer ohnehin bescheidenen Künste noch trüber funzeln. Eine Welt, in der das Gerücht auf der Überholspur der Datenautobahn reist, während sich das Faktum auf dem "Trumpelpfad" dahinmüht, entzieht sich fundierter Prognosen. Was jedoch den Analytikern und Auguren Sand ins Getriebe ihrer Computer bläst, nämlich das impertinente Ignorieren des Tatsächlichen, das souveräne Absehen vom Sachverhalt, ist dem Boulespieler vertrauter Alltag, lebt er doch seit je in einer Welt des Postfaktischen. 

 

Das zeigt sich, sobald zwei der stählernen Globen, die den Kugelathleten die Welt bedeuten, in den Sand gekullert sind. Dann dauert es nicht lang bis, meist aus beträchtlicher Ferne, das Wort "Punkt" erschallt. "Der ist bei uns!" wirft sich einer der Recken mit einer Überzeugung in die Bresche, die jener von Astronomen nicht nachsteht. Diese trauen sich zu, in galaktischen Weiten noch die Atome der Himmelskörper zu bestimmen und – schwierigster Sichtverhältnisse zum Trotz – das Aussehen fernster Welten en detail zu beschreiben. Woran die Sternengucker einfältig festhalten – nämlich das simple Hinschauen – haben die Boulisten längst hinter sich gelassen. In einer Anlehnung an die juristische Unschuldsvermutung reklamieren sie: "Der Punkt ist bei uns und da bleibt er auch solange, bis uns das Gegenteil nachgewiesen wird".

 

Dieses nachzuweisen bedürfte es wenig, wäre der postfaktische Pétanquer auch nur irgend für derlei Input empfänglich – was freilich nicht der Fall ist. Dem Akt des Messens wohnt schließlich stets eine Ungenauigkeit inne. Ein Maßband kann sich durchbiegen, ein Cochonnet ist nie gänzlich rund, der Messende nie vollkommen objektiv. Auch ist das Auge manches betagten Boulomanen sicher schon mal schärfer gewesen. Keinesfalls vermag es daher eine simple Messung, mit jenem hochsensiblen und geeichten Detektor in Konkurrenz zu treten, über den der Postfaktiker gebietet – das eigene Gefühl.

 

Die Welt lernt gerade, was der Kugeljünger schon immer wusste. Nicht das fundierte Argument gewinnt den Preis, sondern das beharrlich vertretene. Die Behauptung des Sieges gelingt durch Behauptungen. Es ist daher nur folgerichtig, eine Regeländerung zu fordern, ja, sie zu prognostizieren: Künftig sollte die lästige Messerei einfach verboten werden. Das Kugelbild ist so zu werten, wie es vom Kreis aus erscheint. Konsequenterweise sollte derjenige den Punkt bekommen, der glaubt, ihn am meisten verdient zu haben. Wenn das der wahren Konstellation Hohn spricht, was soll´s? Dahinter steckt dann eben eine Verschwörung der Steine, dieser missgünstigen Gesellen, die den ganzen Tag faul auf dem Platz herumliegen und es nicht vertragen können, dass ihnen die Boulespieler keinerlei Beachtung schenken. 

 

Sie sagen das sei Unsinn? Nie werde eine solche Regelreform kommen? Sie glauben, das sei genau so ausgeschlossen wie der Brexit und die Präsidentschaft eines Donald Trump? Willkommen in der Welt des Postfaktischen.

 

Thorsten

Braunschweig, Frühjahr 2017


Bild von karosieben auf Pixabay