Sehen


Übt sich ein Spieler in der Kunst des "Tir au fer", indem er versucht, Ziele direkt zu treffen, stellt sich regelmäßig, noch während die geworfene Kugel sich in der Luft befindet, dass Gefühl eines Treffers ein. Die Bewegung wurde exakt und wie gewollt ausgeführt, ihr Resultat kann eigentlich nur der Erfolg sein. Eigentlich – denn gelegentlich geschieht es dann, dass eben nichts geschieht. Die Schusskugel segelt einfach knapp über ihr Ziel hinaus und dem verdutzten Schützen entfährt ein ungläubiges: "Die hab´ ich drauf gesehen." Da offensichtlich die Bewegung keinerlei Anlass zur Kritik bot, lag möglicherweise das Ziel nicht da, wo es vermutet wurde.

 

Beim Pétanquespielen sind wir stets bemüht, unsere Bewegungen soweit zu beherrschen, dass die kleine Stahlkugel möglichst punktgenau jenes Ziel erreicht, das wir für sie bestimmt haben, sei das nun ein Donnée auf dem Boden oder eine andere Kugel, die es zu entfernen gilt. Können wir uns aber sicher sein, das solch ein Punkt auch genau dort liegt, wo wir ihn vermuten? Diese Frage erscheint zunächst absurd, denn wir sehen doch, wohin wir zielen. Das Sehen selbst jedoch, dieser kaum hinterfragte alltägliche Prozess, beinhaltet derart Überraschendes, dass, sobald man die Funktionsweise unseres wichtigsten Sinnes [1] näher ergründet, mit dem Erstaunen über dessen Komplexität auch die Überzeugung wächst, das Gesehene sei keineswegs die exakte Wirklichkeit, sondern vielmehr eine durch Kompromisse gefundene Annäherung an dieselbe:

 

Jedes denkbare Ziel nimmt eine exakte Position im Raum ein und es ist die Aufgabe des räumlichen Sehens, dem Spielergehirn eben diese Position möglichst exakt mitzuteilen. Das geschieht zuvorderst durch das stereoskopische Sehen:

 

Binokulares Sehen [2]: Ein Bild, das durch das Auge auf die Netzhaut dringt, und von Sensoren in Nervenimpulse umgewandelt, schließlich das Gehirn erreicht, wird auf eben dieser Netzhaut stets nur zweidimensional dargestellt; es ist eine Projektion, der jede Tiefe fehlt. Wir blicken jedoch ein Objekt gewöhnlich mit beiden Augen an, erhalten also zwei solcher Projektionen, die sich, da die Augen einen gewissen Abstand zueinander aufweisen, freilich um ein Geringes unterscheiden. Es ist nun die fabelhafte Fähigkeit des Gehirns, diese beiden Bilder zu einem zu fusionieren und aus deren Differenz den Raumeindruck zu errechnen.

 

Je weiter jedoch ein Objekt entfernt ist, desto weniger fällt der Augenabstand im Vergleich zur zu bestimmenden Länge ins Gewicht; desto weniger unterscheiden sich die zu verschmelzenden Bilder voneinander; desto unsicherer wird die Schätzung der Raumlage eines Zieles. Man sagt, dass die Fähigkeit, ein Objekt auf diese Weise exakt zu lokalisieren, im Bereich von sechs bis zehn Metern an ihre Grenzen stößt [2]. Da ein Pétanqespiel in eben dieser Entfernung stattfindet, stellt sich natürlich die Frage, welche weiteren Möglichkeiten der Entfernungsbestimmung dem Menschen zur Verfügung stehen. Sämtlich handelt es sich dabei um Fähigkeiten, die im Prinzip nur eines Auges bedürfen:

 

Monokulares Sehen [3]: Räumliche Tiefe kann sich auch dem Betrachter vermitteln, der nur eines seiner Augen verwendet. Hierdurch ist der Mensch in der Lage, die Staffelung von Objekten zu erkennen, die in zweidimensionalen Bildern dargestellt werden. Um in diesen Darstellungen – und in der flächigen Projektion auf jeweils einer seiner beiden Netzhäute – eine Tiefe zu erkennen, verwendet das Gehirn bestimmte Hilfskonstrukte, von denen einige kurz vorgestellt seien:

 

 

Linearperspektive: Aus dem Wissen um die eigentliche Parallelität von Linien kann das Gehirn, bei deren scheinbarer Annäherung, Rückschlüsse über die räumliche Tiefe des Gesehenen gewinnen (scheinbar in der Ferne zusammentreffende Schienenstränge).

Relative Größe: Die relative Größe bekannter Objekte ermöglicht Rückschlüsse über deren tatsächliche Entfernung.

Verdeckung: Ebenso kann bei teilweise einander verdeckenden Gegenständen auf deren räumliche Anordnung geschlossen werden.

Schatten: Auch auf den Untergrund geworfene Schatten liefern Informationen zur räumlichen Lage.

Texturen: Die sich scheinbar verringernde Größe von weiter entfernt liegenden Texturen – etwa des Bodenbelages – kann Rückschlüsse auf Entfernungen erlauben.

Akkomodation: Über das "Scharfstellen" gewinnt das Auge Informationen über die Entfernung von Objekten. So zieht der sogenannte "Cilarmuskel" unterhalb einer Entfernung von 6 m den Glaskörper zusammen, während er ihn bei darüber liegenden Entfernungen streckt [4]. 

Adaption: Auch die Anpassung des Auges an vorherrschende Lichtverhältnisse, das Zusammenziehen oder Weiten der Pupille, wirkt sich indirekt auf die Raumwahrnehmung aus, indem nämlich bei Pupillenweitung die Sehschärfe negativ beeinflusst wird, was das räumliche Auflösungsvermögen des Auges vermindert [5].

 

Wie es sich mit dem Sehen verhält: Aus alldem folgt, dass es sich beim räumlichen Sehen keinesfalls um ein augenblickliches Erkennen der exakten Lage der Objekte handelt, sondern vielmehr um ein "komplexes Schließen" aufgrund des Abgleichs einer Vielzahl von Parametern und gestützt auf zwei unterschiedlich arbeitende Systeme. Wir können nur vermuten, dass die Welt genau so ist, wie wir sie sehen. Gleichwohl ist die menschliche Fähigkeit, die Lage von Objekten zu erkennen, erstaunlich exakt. Sie nimmt jedoch mit zunehmender Entfernung der Objekte ab und kann auch durch widrige Umstände, wie etwa schlechte Lichtverhältnisse, Einbußen erleiden.

 

 

Die natürliche Fähigkeit zur Entfernungsbestimmung lässt sich beim Menschen kaum verbessern, ist aber glücklicherweise hinreichend entwickelt.
Die natürliche Fähigkeit zur Entfernungsbestimmung lässt sich beim Menschen kaum verbessern, ist aber glücklicherweise hinreichend entwickelt.

Kann man das räumliche Sehen verbessern? Eingedenk der Hilfskonstrukte, derer sich der Mensch beim monokularen Sehen bedient, liegt es auf der Hand, dass möglichst scharfes Sehen hier nur förderlich sein kann, dass etwaige vorhandene Sehfehler also ausgeglichen werden sollten. Weiterhin ist es plausibel, dass die Gewinnung räumlicher Informationen durch stetes Praktizieren besser wird. Ein Spieler schult sich also durch die Spieltätigkeit darin, den Raum exakter wahrzunehmen [6]. Darüber hinaus existieren vor allem im Bereich des Leistungssportes Versuche, durch spezielles Training des Sehvermögens Verbesserungen zu erzielen. Diese sind jedoch zum einen recht aufwändig, und müssen zum anderen auch exakt auf die jeweilige Sportart zugeschnitten sein [7]. Für den im Pétanque so wichtigen Teilbereich des räumlichen Sehens machen zudem Studien kaum Hoffnung auf eine Verbesserbarkeit durch spezielles Training [7]. Dennoch muss das Wissen um die Art und Weise, wie wir zu Raumeindrücken gelangen, dazu führen, den Prozess des Sehens mit besonderer Sorgfalt anzugehen. Das ohnehin zum Zwecke der Konzentration notwendige Fokussieren des Zieles [8], und das Ausblenden störender Bewegungen im Bereich des peripheren Sehens, kann als Blickstrategie eingeübt werden und muss zwangsläufig die Gewinnung des besten zu ermittelnden Raumeindruckes zur Folge haben. Dass sich die Unterstützung des Auges durch Hilfsmittel wie Brille oder Kontaktlinse positiv bemerkbar machen wird, versteht sich von selbst. Auch wenn Sehschärfe und Stereosehen nicht unmittelbar zusammenhängen – wird so doch das monokulare räumliche Sehen gefördert. Aus diesem Grunde sollte auch der Schirmmütze der Vorzug vor der Sonnenbrille gegeben werden, deren dunkle Gläser oft genau jene Details verschlucken, auf deren Wahrnehmung der Spieler dringend angewiesen ist.

 

 

 

Thorsten


[1] 90 % der Informationen aus der Umwelt werden durch das Sehen erhoben.

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Raumwahrnehmung

Weniger wissenschaftlich erklärt und zudem mit einem kurzen Film versehen: https://www.blickcheck.de/auge/funktion/raeumliches-sehen/

Solche Hilfskonstrukte sind auch für vielerlei optische Täuschungen verantwortlich. Anschaulich und ausführlich: http://www.scinexx.de/inc/artikel_drucken.php?f_id=18&a_flag=2

Siehe hier S. 13 – Das ganze zweite Kapitel bietet einen guten Einblick in die hier besprochene Thematik.

[6] Man kann das aus dem Umstand schließen, das Spieler, die überwiegend in weitläufiger Umgebung spielen, Probleme bekommen, sobald sie in beengteren räumlichen Verhältnissen aktiv werden und vice versa. Das deutet darauf hin, das sich der Raumeindruck als Erfahrung dem Spieler einprägt. Stark abweichende räumliche Verhältnisse wirken sich dann störend aus. Für Spieler, die mit der Weitläufigkeit des Geländes fremdeln, hat es sich bewährt, ein oder zwei Mannschaftsmitglieder auf Höhe des Cochonnets zu postieren, während man selbst wirft. Hierdurch wird der ungewohnt freie Raum besser strukturiert und der Spieler kann die Entfernungen in gewohnter Weise abschätzen. Derart positionierte Mitspieler bieten auch einen gewissen Schutz, sollte es links und rechts des Feldes einmal zu lebhaft zugehen. 

[8] Siehe hierzu den Artikel im Boulelexikon: Aufmerksamkeit und Konzentration


 

 

Anmerkung 1: Der Autor dieses Artikels bemerkt in der Phase der Dämmerung, sofern ohne Kunstlicht gespielt wird, regelmäßig eine signifikante Abnahme der Trefferquote bei Eisenschüssen. Eine Erklärung hierfür könnten Fehldeutungen sein, die sich einstellen, sobald sich die Bedingungen für das monokulare räumliche Sehen verschlechtern (beispielsweise durch das Schwinden von Schatten und Kontrast). Diese Vermutung wird durch folgendes Phänomen erhärtet:

Betreibt man das Schießen bei fast vollständiger Dunkelheit, sind auf den Zielkugeln nur noch schwache Lichtreflexe sichtbar, während alles andere von der Schwärze der Nacht verborgen wird. Dann steigt die Trefferquote meist enorm an, ein Effekt, der auch von anderen Spielern so berichtet wird. Natürlich mögen die nun viel geringeren Ablenkungen hierfür ursächlich sein, denn es gibt dann nur noch den Schützen und das Ziel, ein Zustand, den man im Spiel stets hervorrufen möchte. Nicht auszuschließen ist jedoch, das es, da das Raumsehen nun rein auf das binokulare Sehen beschränkt ist, dann zu den oben vermuteten Fehldeutungen nicht mehr kommen kann.

 

Anmerkung 2: Der Autor dieses Artikels kann immer wieder bei sich selbst beobachten, dass die Trefferquote sich verringert, sofern er zuvor lange am Bildschirm gesessen oder intensiv gelesen hat. Es ist bekannt, dass die Augen bei solchen Tätigkeiten ermüden können. Insofern könnte es ratsam sein, diese im Vorfeld wichtiger Spiele nicht überzustrapazieren. Dass vor dem Spiel ausgeübte Tätigkeiten über das Sehen auf die Spielleistung rückwirken, mag man auch Berichten von Spielern entnehmen, die angeben, nach langen Anfahrten mit dem Auto, zunächst nicht zur ihrer gewohnten Präzision finden zu können.